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Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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Aber die Sonne verfinsterte sich nicht, nein, sie sengte immer weiter vom Himmel, sengte und sengte, bis sie schließlich auf die leuchtende Trikolore herabschien, auf die Köpfe der Männer aus Marseilles, auf die singenden Siegesprozessionen und all die versteckten, loyalen Cordeliers, die so schlau gewesen waren, den ganzen Tag daheim zu bleiben, und die nun aus ihren Häusern strömten und die Republik hochleben ließen, den Tod der Tyrannen forderten und nach ihrem Mann Danton riefen.
    Ein lautes Klopfen an der Tür. Lucile riss sie auf, nichts konnte ihr jetzt mehr Angst machen. Vor ihr stand ein großer Mann, am Türrahmen abgestützt, leicht hin und her schwankend: ein echter Mann aus dem Volk. »Verzeihen Sie, Monsieur«, sagte Louise Robert lachend, »ich glaube, wir sind uns noch nicht vorgestellt worden.«
    »Sie zerschlagen die Spiegel im Palast«, sagte der Mann. »Jetzt sind die Cordeliers König.« Er warf Gabrielle etwas zu. Sie fing es ungeschickt auf. Es war eine Haarbürste, schwer, mit silbernem Rücken. »Vom Frisiertisch der Königin«, sagte der Mann.
    Gabrielle fuhr das erhabene Monogramm nach: »A« wie Antoinette. Der Mann taumelte einen Schritt vor und fasste Lucile um die Taille, hob sie vom Boden hoch. Er roch nach Wein, Tabak und Blut. Er küsste sie auf den Hals, ein saugender, gieriger Plebejerkuss – stellte sie wieder auf die Füße, polterte auf die Straße zurück.
    »Du meine Güte«, sagte Louise, »welche Heerscharen von Verehrern, Lucile! Wahrscheinlich hat er schon seit zwei Jahren auf die Gelegenheit gewartet.«
    Lucile zog ihr Taschentuch hervor und tupfte sich den Hals ab. Heute Morgen, das waren keine Verehrer, dachte sie. Sie drohte mit dem Finger und verschleierte die Stimme zu ihrer oft geprobten Rémy-Imitation: »Immer wieder sag ich zu ihnen: Jungs, kein Gerangel wegen mir – denkt dran: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!«
    Die Haarbürste der Königin blieb liegen, wo Gabrielle sie hatte fallen lassen: auf dem Wohnzimmerteppich.
    Danton kam heim. Es war später Nachmittag. Sie hörten seine Stimme schon draußen auf der Straße. Er kam mit Fabre, dem größten Genie unserer Zeit, mit dem Metzger Legendre, mit Collot d’Herbois, dem grässlichsten Stück Mensch unter der Sonne; mit François Robert, mit Westermann. Seine Arme lagen um die Schultern von Legendre und Westermann, und er schlingerte, unrasiert, erschöpft, nach Branntwein stinkend. »Wir haben gesiegt!«, grölten sie – leiernd, aber treffend. Er zog Gabrielle in seine Arme, presste sie an sich, heftig, beschützerisch; ihre Knie gaben gleich wieder unter ihr nach.
    Er setzte sie auf einen Stuhl. »Sie hat sich die ganze Zeit kaum auf den Beinen halten können«, meldete Louise Robert. Ihre Haut unter dem Rouge glühte jetzt: François war wieder bei ihr.
    »Raus hier, alle miteinander!«, befahl Danton. »Habt ihr keine Betten, in die ihr euch legen könnt?« Er wankte in sein eigenes Schlafzimmer und warf sich aufs Bett. Lucile folgte ihm. Sie berührte seinen Nacken, fasste ihn bei den Schultern. Er stöhnte auf. »Ein anderes Mal gern«, murmelte er. Er wälzte sich auf den Rücken, grinste. »Ach, Georges-Jacques, Georges-Jacques«, sagte er zu sich, »aus was für einer Fülle wunderbarer Gelegenheiten besteht das Leben doch. Was würde Maître Vinot jetzt von dir halten?«
    »Wo ist mein Mann?«
    »Camille?« Er grinste noch breiter. »Camille ist in der Manege und nimmt die nächste Etappe des Großen Plans in Angriff. Nein, Camille ist kein Mensch wie du und ich, er braucht keinen Schlaf.«
    »Als ich ihn das letzte Mal zu Gesicht bekommen habe«, sagte sie, »stand er unter Schock.«
    »Ja.« Das Grinsen verflog. Seine Augenlider fielen zu, hoben sich dann wieder. »Dieses Drecksweib Théroigne hat Suleau abgeknallt, direkt vor Camilles Nase. Komisch, Robespierre hat sich den ganzen Tag nicht blicken lassen. Vielleicht hat er sich in Duplays Keller versteckt.« Seine Stimme wurde schwächer. »Suleau ist mit Camille in die Schule gegangen. Max auch, so klein ist die Welt. Camille ist ein fleißiger Junge, er wird es weit bringen. Morgen werden wir wissen …« Seine Augen schlossen sich. »Schluss«, sagte er.
    Die Versammlung hatte ihre laufende Sitzung um zwei Uhr morgens begonnen. Die Debatte war nicht ganz störungsfrei vor sich gegangen, immer wieder wurde sie von Geschützfeuer übertönt und geriet um halb neun kurzfristig ganz aus den Fugen, als die königliche Familie

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