Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
Deputierter. Für ihn lässt sich nichts mehr tun, jedenfalls nicht in dieser Welt.
David holt seine Stifte heraus. Lepelletier ist ein hässlicher Mann, da hilft nichts. Die Züge verwischen sich schon; ein Arm hängt schlaff und nackt herab wie der Arm des zu Grabe getragenen Christus. Die Kleider, die man ihm vom Leib geschnitten hat, sind steif und schwarz von Blut. David befühlt das Hemd, kleidet im Geist den sterbenden Körper auf dem Bett neu ein.
Vor nur wenigen Stunden saß Lepelletier noch beim Essen, im Restaurant Feurier im Jardin de l’Égalité (wie wir das Palais Royal seit kurzem nennen). Ein Mann näherte sich ihm – ein Fremder, aber sehr freundlich –, vielleicht um ihn zu der republikanischen Konsequenz zu beglückwünschen, mit der er für Capets Tod gestimmt hat. Leutselig, wenn auch erschöpft von den vielen nächtelangen Sitzungen, lehnte sich der Abgeordnete in seinem Stuhl zurück – worauf der Fremde unter seinem Mantel ein Schlachtermesser hervorzog und es dem Abgeordneten in den Oberkörper stieß, rechtsseitig, gleich unter dem Brustkorb.
Lepelletier wurde ins Haus seines Bruders getragen. Aus seinen zerfetzten Eingeweiden sprudelte das Blut in Schwällen auf seine Helfer; die Wunde, aus der es floss, war faustgroß. »Mir ist kalt«, flüsterte er, »mir ist so kalt.« Man türmte Decken über ihn. »Mir ist so kalt«, flüsterte er.
Fünf Uhr morgens: Robespierre schläft in seinem Zimmer in der Rue Saint-Honoré. Seine Tür ist abgesperrt und mit zwei Riegeln gesichert. Davor liegt Brount, seine Schnauze einen Spalt geöffnet, seine breiten Tatzen zuckend, während er von besseren Tagen träumt.
Fünf Uhr morgens: Camille Desmoulins stiehlt sich aus dem Bett, hellwach wie vor Jahren im Internat. Danton will eine Rede von ihm, um damit Rolands Rücktritt als Minister zu erzwingen. Lolotte dreht sich um, murmelt etwas, streckt die Hand nach ihm aus. Er stopft die Decke um sie fest. »Schlaf weiter«, flüstert er. Danton wird von der Rede keinen Gebrauch machen. Er wird die Seiten in der Faust zerknüllen und aus dem Stegreif sprechen … Gut, aber Camille schreibt sie ja auch nicht, weil er muss, sondern um in Übung zu bleiben und die Zeit bis zum Morgen zu verkürzen.
Die Kälte schneidet ihm in die Haut wie mit Messern. Leise tastet er sich durch das Zimmer, spritzt sich eisiges Wasser ins Gesicht. Schon beim kleinsten Geräusch von ihm wird Jeanette wach werden und ihm ein Feuer anzünden, ihm erzählen, dass er es auf der Brust hat (was nicht stimmt), und ihn mit Essen traktieren, das er nicht herunterbringt. Als Allererstes schreibt er nach Hause … »Ihr Sohn, der Königsmörder.« So, jetzt ein paar frische Blätter für die Rede. Lolottes Katze versetzt seiner Feder einen vorsichtigen Stups, ihre Augen voller Argwohn; er streichelt ihr mit einer Hand den Buckel und schaut in das Morgengrauen, das zaghaft über die Dächer der östlichen Vorstädte herankriecht. Seine Kerze flattert in einem jähen Windzug, und er fährt herum, starr von Anspannung, doch er ist allein mit den schwarzen Umrissen der Möbel, der Stiche an den Wänden. So sacht wie die Katzenpfote streichen seine klammen Finger über den Lauf der kleinen Pistole in seiner Schreibtischschublade. Gefrierender Regen sprenkelt den Straßenschlamm.
Halb acht morgens: In einem kleinen Raum kauern dicht beim Ofen ein Priester und Louis der Letzte. »Es waltet hoch im Himmel ein unbestechlicher Richter … wahrscheinlich wird die Nationalgarde anrücken … Was habe ich meinem Vetter Orléans getan, dass er mich so verfolgt … Ich kann alles erdulden … Diese Menschen sehen überall Dolche und Gift, sie fürchten, ich will mir ein Leid antun … Ich bin beschäftigt, gedulden Sie sich einen Moment … Geben Sie mir Ihren letzten Segen und bitten Sie Gott, dass er mir bis ans Ende beistehe … Cléry, mein Kammerdiener – gebt meine Uhr und meine Kleider ihm …
Halb elf vormittags: Der Frack wird Sansons Gehilfen aus den Händen gerissen und in Stücke geschnitten. Auf der Place de la Révolution werden Pasteten und Pfefferkuchen verkauft. Das Volk umdrängt das Blutgerüst, tränkt Stofffetzen mit dem vergossenen Blut.
Lepelletier, der Märtyrer, liegt prachtvoll aufgebahrt.
Louis, der König, wird mit ungelöschtem Kalk zugeschaufelt.
Zum Ende der ersten Februarwoche führt Frankreich Krieg gegen England, Holland und Spanien. Der Nationalkonvent hat allen Völkern, die gegen ihre Unterdrücker
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