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Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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Feierns; der Kleine wird zu Grandmère verfrachtet, die Amme zuckelt hinterher.
    In anderen Phasen bezieht sie schon früh am Tag ihren Posten auf der blauen Chaiselongue; da liegt sie dann, so tief in Tagträume versunken, dass niemand sie zu stören oder ein Wort zu sagen wagt. Eines Tages taucht sie aus ihrem Sinnen auf und sagt: Weißt du, Georges-Jacques, manchmal denke ich, die Revolution ist von vorn bis hinten eine Ausgeburt meiner Fantasie – sie scheint zu aberwitzig, um wahr zu sein. Und Camille – wenn er nun lediglich meine eigene Erfindung ist, ein Phantom, das ich aus den Tiefen meiner Natur heraufbeschworen habe, ein geisterhaftes zweites Ich, das meine Unzufriedenheiten verkörpert?
    Er lässt sich das durch den Kopf gehen, denkt an seine eigenen Hervorbringungen: zwei tote Kinder, dazu eine Frau, die er, so glaubt er, durch seine Härte umgebracht hat; seine gescheiterten Friedenspläne und nun das Tribunal.
    Das Tribunal tritt im Justizpalast zusammen, in einem Saal gleich neben dem Conciergerie-Gefängnis mit Marmorböden und Gewölbedecken. Sein Präsident, Montané, ist ein gemäßigter Mann, kann jedoch bei Bedarf ersetzt werden. Im kommenden Herbst wird der rothaarige und rotgesichtige Vize-Präsident Dumas zu erleben sein, der manchmal im Alkoholnebel zu seinem Platz geleitet werden muss. Er führt den Vorsitz mit zwei geladenen Pistolen vor sich auf dem Tisch, und seine Wohnung in der Rue de Seine gleicht einer Festung.
    Es gibt eine ganze Auswahl an Geschworenen, alles bewährte Patrioten, die vom Konvent bestimmt werden. Souberbielle, Robespierres Arzt, gehört zu ihnen; im Laufschritt eilt er zwischen dem Gerichtssaal, seinem Krankenhaus und seinem prominentesten Privatpatienten hin und her. Maurice Duplay ist ebenfalls Geschworener; er mag das Amt nicht und erzählt zu Hause nie darüber. Auf das Konto eines anderen, des Bürgers Renaudin, von Beruf Geigenbauer, geht ein gewaltsames Zwischenspiel im Jakobinerclub, einer jener grundlosen, beklemmenden Vorfälle, wie sie sich dieser Tage mehren: Bei seinem Versuch, den Bürger Desmoulins zu widerlegen, kommt ihm jäh aller Glaube an Vernunft oder Logik abhanden, und er rennt gegen Camille an, dass der quer durch den Saal fliegt. Die Ordner werfen sich auf ihn, bugsieren ihn mit roher Kraft hinaus, doch noch lauter als der Chor der Buhrufe von der öffentlichen Galerie gellt Renaudins Stimme: »Nächstes Mal bring ich ihn um!«
    Öffentlicher Ankläger ist Antoine Fouquier-Tinville, ein schlagfertiger, dunkler Mann, der gern den Moralisten herauskehrt: kein so bühnenwirksamer Patriot wie sein Vetter, aber um einiges fleißiger.
    Das Tribunal spricht oft frei, während der ersten Zeit zumindest. Nehmen wir zum Beispiel Marat: Er wird von der Gironde angeklagt, Bürger Fouquier agiert verhalten, der Gerichtssaal quillt über von Marat-Anhängern, die von der Straße hereindrängen. Das Tribunal weist den Fall ab, eine singende, grölende Volksmenge trägt den Angeklagten auf ihren Schultern zum Konvent, durch die Straßen und schließlich in den Jakobinerclub, wo sie den grinsenden kleinen Demagogen auf dem Präsidentenstuhl deponiert.
    Im Mai zieht der Nationalkonvent aus der Manege in das ehemalige Tuilerien-Theater um, das für diesen Zweck renoviert wird. Kein Gedanke mehr an rosafarbene grübchenbewehrte Amoretten, an geschwungene rotsamtene Logenbrüstungen oder das Rascheln von Seide. Nein, jetzt herrschen gerade Linien und rechte Winkel, Gipsstatuen mit Gipskronen, Gipslorbeer, Gipseichenlaub. Ein quadratisches Rednerpult, dahinter, fast waagrecht, drei gewaltige Trikoloren, daneben als Memento mori die Büste Lepelletiers. Die ansteigenden Bänke für die Abgeordneten bilden einen Halbkreis, tischlos, sodass die Deputierten nirgendwo schreiben können. Der Präsident hat seine Glocke, sein Tintenfass, seinen Folianten: äußerst hilfreich, wenn dreitausend Aufständische aus den Vorstädten die Versammlung stürmen und unter ihm durcheinanderwimmeln. Schmale Sonnenstreifen zwängen sich durch die tiefen Fenster; an Winternachmittagen sind die Gesichter in den feindlichen Bänken nur als vage Bedrohung ahnbar. Wenn die Lampen angezündet werden, ist die Wirkung gespenstisch: ein Debattieren in Katakomben, unsichtbare Münder, aus denen gegenseitige Anschuldigungen dringen. Aus noch größerer Düsternis johlt und buht die Zuhörerschaft.
    In diesem neuen Saal finden sich die alten Faktionen zusammen wie gehabt. Legendre, der

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