Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
beschlossen sie beide, dann sollte es ein Fest geben. Mir ist jeder Anlass recht, sagte Annette. Einen Moment lang saßen sie stumm da, in Gedanken bei den vergangenen zehn Jahren. Dann kehrten sie wieder zurück zu den Angelegenheiten der Kommune.
Zur Tür herein kam, unerwartet und unangekündigt, Lucile. »Also wirklich!«, sagte Annette. »Einfach hier hereinzuplatzen, mitten in unser hochintimes Gespräch über Héberts –«
Lucile lachte nicht. Sie fing zu reden an. Erst verstand er sie so, dass Dillon tot sei, in der Schlacht gefallen; eine dumpfe Leere machte sich in ihm breit, und er setzte sich still an den Schreibtisch beim Kamin und starrte auf die Maserung der Holzplatte hinab. Es dauerte ein, zwei Minuten, ehe die Botschaft zu ihm durchdrang: Dillon ist hier, er sitzt im Gefängnis, was sollen wir tun?
Annettes übermütige Stimmung war wie weggeblasen. »Das hat gerade noch gefehlt«, sagte sie. Was kommt noch alles?, dachte sie. Wer steckt dahinter? Einer dieser verfluchten Ausschüsse? Der Sicherheitsausschuss, den alle den Polizeiausschuss nennen? Ist wirklich Dillon gemeint, oder geht es gegen Camille?
Lucile sagte: »Du musst ihn herausholen, das ist dir klar, oder? Wenn er verurteilt wird« – ihr Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass Verurteilung für sie nur eines heißen konnte –, »werden sie auf dich zeigen und sagen, schaut, wie er Dillon immer protegiert hat. Und es stimmt – das hast du.«
»Verurteilt?« Camille war aufgesprungen. »Es wird keine Verurteilung geben, weil es keinen Prozess geben wird. Ich breche meinem verdammten Vetter seinen Drecks-Hals.«
»Du tust nichts dergleichen«, sagte Annette. »Mäßige deine Ausdrucksweise, setz dich wieder, trink ein Glas zur Beruhigung.«
Keine Chance. Camille schäumte vor Wut – keiner kalten, geheuchelten Politikerwut, nein, diese Wut war echt: Jetzt kriegt ihr’s mit mir zu tun, besagte sie. »Da geht er hin, dein guter Name«, murmelte Annette ihrer Tochter zu. Die Wut derweil schickte sich zum Sturm auf den Konvent an – allerdings mit einem Umweg über Marats Haus.
Die Köchin machte ihm auf. Wozu braucht Marat eine Köchin? Es ist nicht so, als würde er Essenseinladungen geben. Falls sich nicht hinter diesem Titel »Köchin« eine dynamischere, revolutionärere Tätigkeit verbarg. »Nicht über die Zeitungen stolpern«, sagte die Frau. Sie wuchsen in Türmen aus dem Boden des trüben, schmutzigen Flurs.
Nachdem sie ihre Warnung ausgesprochen hatte, gesellte sie sich gleich wieder zu ihrer Herrschaft, die in einem Halbkreis saß wie die Teilnehmer einer Séance. Warum putzt hier keiner mal ordentlich durch?, fragte er sich verärgert. Aber Marats Frauen schienen mit den haushälterischen Tugenden nicht vertraut zu sein. Simone Evrard war da, mit ihrer Schwester Catherine; Marats Schwester Albertine sei in die Schweiz gefahren, sagten sie, um die Familie zu besuchen. Wie, Marat hat eine Familie? Mit Vater, Mutter und allen Schikanen? Alles ganz normal, sagte die Köchin. Komisch, ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass Marat irgendwo herkommt. Für mich ist er Tausende und Abertausende von Jahren alt, wie Cagliostro. Kann ich zu ihm?
»Es geht ihm nicht gut«, sagte Catherine. »Er nimmt eins von seinen Spezialbädern.«
»Ich muss ihn wirklich dringend sprechen.«
»Dillon?« Die rehäugige Simone stand auf. »Gut, kommen Sie mit. Das hat ihn amüsiert.«
Marat saß in einer halb abgedeckten Badewanne in einem kleinen, heißen Zimmer, mit einem Handtuch über den Schultern und einem Lappen um den Kopf. Durchdringender Arzneigeruch hing in der Luft. Sein Gesicht war aufgedunsen, der gewöhnliche Gelbstich seiner Haut unterlegt mit etwas Beunruhigenderem, einer Bläue. Quer über die Wanne war ein Brett gelegt, das als Schreibtisch diente.
Simone wies ihn zu einem Stuhl, einem Flechtstuhl, dem sie einen liebenswürdigen kleinen Tritt versetzte.
Marat sah von den Druckfahnen auf, die er korrigierte. »Ach je, sind wir ganz außer uns? Der Stuhl ist zum Sitzen gedacht, Camille, nicht zum Draufsteigen und Redenhalten.«
Camille setzte sich hin. Er vermied es, Marat anzusehen. »Ja, sehr ästhetisch, nicht wahr?«, sagte Marat. »Ein richtiges Kunstwerk. Ich sollte im Museum stehen. Bei den vielen Leuten, die hier durchtrampeln, komme ich mir ohnehin schon wie ein Ausstellungsstück vor.«
»Es freut mich, dass Sie etwas gefunden haben, über das Sie sich amüsieren können. In Ihrer
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