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Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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Jungen aus der Provinz, dachte er, stehen wir bemerkenswert gut da.
    Kurz nach elf Uhr am nächsten Morgen kam Henri Sanson zu ihr in die Zelle, um sie vorzubereiten. Er war der Sohn jenes Sanson, der ihren Mann hingerichtet hatte. Sie trug ein weißes Kleid, ein leichtes Umschlagtuch, schwarze Strümpfe und ein Paar hochhackiger pflaumenfarbener Schuhe, die sie während ihrer Kerkerhaft sorgsam gehütet hatte. Der Henker fesselte ihr die Hände auf dem Rücken und schnitt ihr das Haar ab, das sie laut ihrer Zofe eigens für den Richter und die Geschworenen »hochfrisiert« hatte. Sie duldete es regungslos, und Sanson ließ den Stahl nicht ihren Hals berühren. Nur Sekunden später lagen die langen Flechten, die nicht mehr honigblond waren, sondern mit groben grauen Strähnen durchzogen, auf dem Zellenboden. Er raffte sie zusammen, damit sie verbrannt würden.
    Der Schinderkarren wartete im Hof, ein gewöhnlicher Frachtkarren, mit dem man sonst Brennholz beförderte; nun waren ein paar Bretter als Sitze darübergelegt. Bei dem Anblick verlor sie etwas von ihrer Fassung und zuckte zusammen, schrie aber nicht auf. Sie bat den Henker, ihr für einen Augenblick die Fesseln zu lösen, und als ihre Hände frei waren, kauerte sie sich in ein Mauereck und ließ Wasser. Dann wurde sie neuerlich gebunden und in den Karren gesetzt. Ihre müden Augen unter dem geschorenen Haar und der weißen Haube suchten in den Gesichtern ringsum nach Mitleid. Die Fahrt zum Schafott dauerte eine Stunde. Sie sprach während der ganzen Zeit nicht. Gleichgültige, gedungene Hände halfen ihr die Stufen zum Gerüst hinauf. Ihre Glieder fingen an zu zittern, die Beine trugen sie nicht recht. In ihrer Blindheit und Angst trat sie dem Henker auf den Fuß. »Verzeihung, Monsieur«, flüsterte sie, »das wollte ich nicht.« Wenige Minuten nach zwölf rollte ihr Kopf: »die größte von allen Freuden, die Père Duchesne jemals vergönnt waren.«

10. Der Marquis kommt zu Besuch
    (1793)
    Beide Monarchen sind tot, der Tyrann und die Tyrannin. Man sollte meinen, das gebe einem ein Gefühl von Freiheit, aber Lucile empfindet es nicht so. Sie hat Camille bestürmt, ihr Einzelheiten über die letzten Stunden der Königin zu berichten, will wissen, ob diese sich einen Platz in der Geschichte verdient hat, doch er wollte nicht recht mit der Sprache heraus. Schließlich sagte er, sie wisse doch genau, dass ihn nichts dazu bringen könne, einer Hinrichtung beizuwohnen. Heuchler, sagte sie. Du solltest dir anschauen, welche Folgen deine Taten haben. Er starrte sie an. Ich weiß, wie das ist, wenn Menschen sterben, sagte er. Er machte eine Verbeugung im Stil des alten Regimes, sehr übertrieben und ironisch, nahm seinen Hut und ging hinaus. Er stritt nur selten mit ihr, rächte sich dann jedoch durch geheimnisvolle Abwesenheiten von unterschiedlicher Dauer, mal bloß zehn Minuten, mal gleich mehrere Tage.
    Diesmal war er binnen einer Stunde wieder da: ob sie abends ein Souper veranstalten könnten? Die Vorbereitungszeit sei ja sehr großzügig bemessen, merkte Jeannette bissig an. Aber wenn man Geld hat und weiß, wo man sich hinwenden muss, kann man immer gutes Essen in ausreichender Menge beschaffen. Camille verschwand wieder, und es war Jeannette, die beim Einkaufen herausfand, was es zu feiern gab. Der Nationalkonvent hatte am Nachmittag erfahren, dass die Österreicher in einer langen, blutigen Schlacht bei Wattignies besiegt worden waren.
    Und so tranken sie an diesem Abend auf den jüngsten Sieg, die neusten Befehlshaber. Sie sprachen über die Fortschritte im Kampf gegen die Aufständischen in der Vendée, über die Niederschlagung der Rebellen in Lyon und Bordeaux. »Die Republik scheint ja prächtig zu gedeihen«, sagte sie zu Hérault.
    »Ja, das sind wirklich gute Nachrichten.« Doch er runzelte die Stirn. Er war mit den Gedanken woanders – er hatte den Wohlfahrtsausschuss gebeten, ihn im Gefolge von Saint-Just ins Elsass zu schicken, und würde bald aufbrechen, vielleicht schon am folgenden Tag.
    »Warum haben Sie das getan?«, fragte sie. »Ohne Sie wird es hier richtig langweilig sein. Ich bin froh, dass Sie heute Abend kommen konnten, ich dachte schon, Sie wären vielleicht im Ausschuss.«
    »Dort hat man kaum noch Verwendung für mich. Man erzählt mir nur noch das Allernötigste. Da erfahre ich aus der Zeitung mehr.«
    »Traut man Ihnen nicht mehr?« Sie war alarmiert. »Was ist denn passiert?«
    »Fragen Sie Ihren Mann. Der Unbestechliche

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