Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
Lucile rief ihr nach, sie solle zurückkommen. »Sie will sich umbringen!« Dümmlich zeigte sie ihr hinterher, wie um sich besser verständlich zu machen.
»Nein«, sagte Camille.
»Du bist wirklich böse, Camille«, flüsterte Lucile. »Falls es eine Hölle gibt, wirst du darin schmoren.« Die Tür fiel ins Schloss. Lucile eilte durchs Zimmer. Sie wollte ihm wehtun, ihn verletzen, als Wiedergutmachung für das Leid dieses geisterhaften Wesens, das in den Regen hinausgeschlichen war. Kühl packte er sie an beiden Handgelenken, vereitelte ihr Vorhaben. Sie bebte am ganzen Körper, und heiße Tränen brannten auf ihren Wangen. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich weiß, dass du das, was sie wollte, nicht tun kannst, das ist absurd, aber es muss doch irgendeine Möglichkeit geben, ihr zu helfen, ihr wieder neuen Lebenswillen einzuhauchen? Eigentlich will doch jeder Mensch leben.«
»Nein. Es werden jeden Tag Leute auf der Straße aufgegriffen. Sie warten, bis eine Patrouille vorbeikommt, und dann rufen sie, dass der Dauphin oder Robespierre guillotiniert werden soll. Sie hat eine Menge Todesarten zur Auswahl. Sie muss sich nur entscheiden.«
Sie riss sich von ihm los, stürmte in ihr Schlafzimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Sie atmete schwer, das Herz schlug ihr bis zum Hals. Bei all der Leidenschaft und Wut, die wir in uns haben, werden eines Tages diese Mauern bersten, wird dieses Haus zusammenstürzen. Nur Erde, Gras und Gebeine werden übrig sein, und man wird unsere Tagebücher lesen, um herauszufinden, wer und wie wir waren.
9. BRUMAIRE , im Justizpalast: Brissot wirkte gealtert. Seine Haut schien papieren, sein Rücken war gebeugter, und seine Geheimratsecken waren größer geworden. Auch de Sillery sah alt aus. Wo war seine Spielleidenschaft geblieben? Diesmal würde er nicht auf das Ergebnis wetten, so viel war sicher. Manchmal fragte er sich allerdings, wie man ihn zum Brissotisten hatte erklären können. Er sollte neben Philippe sitzen. Philippe, der Glückspilz, hatte noch eine Woche zu leben.
Er beugte sich vor. »He, Brissot, erinnern Sie sich? Wir waren Zeugen bei Camilles Trauung.«
»Stimmt«, sagte Brissot. »Aber das war Robespierre auch, wissen Sie.«
Vergniaud, der nie groß auf seine Kleidung geachtet hatte, war heute wie aus dem Ei gepellt, als wollte er beweisen, dass weder Gefangenschaft noch Prozess ihn hatten brechen können. Seine Miene war bewusst ausdruckslos; er würde nichts preisgeben, seinen Peinigern keinerlei Genugtuung verschaffen. Wo Buzot heute Abend wohl war? Und Bürger Roland? Und wo war Pétion? Lebte er noch?
Es schlug Viertel nach zehn. Draußen war es stockfinster, es regnete. Die Geschworenen kamen wieder und wurden sofort von Verfahrensbeteiligten umringt. Bürger Fouquier schritt gemächlich über den Marmor ins Licht, seinen Vetter neben sich; er hatte zweiundzwanzig Urteile zu verlesen, zweiundzwanzig Todesurteile zu verkünden, ehe er zu einer späten Mahlzeit und einer Flasche Wein nach Hause gehen konnte.
Sein Vetter Camille war sehr blass, nervös, seine Stimme zitterte. Sechs Tage lang hatte Fouquier vor den Geschworenen die Behauptungen seines Vetters wiederholt: dass es eine föderalistische Verschwörung gebe, monarchistische Komplotte. Gelegentlich, wenn ihnen eine mittlerweile wohlbekannte Formulierung zu Ohren kam, drehten sich die Angeklagten alle gleichzeitig um und schauten Camille an. Als hätten sie es einstudiert, und bestimmt hatten sie das auch. Es war sicher anstrengend gewesen, dachte Fouquier. Er hatte die Schinderkarren schon bestellt, bei zweiundzwanzig Angeklagten musste man an solche Details denken.
Die Szene, dachte Fouquier, hat etwas Theatralisches, sie böte sich als Motiv für einen Maler an: das Schwarzweiß der Fliesen, das Flackern der Kerzen, hier und da die bunten Tupfer der Trikolore. Licht fällt auf das Gesicht seines Vetters; er setzt sich. Der Obmann der Geschworenen steht auf. Ein Schreiber zieht ein Bündel Todesurteile aus einem Ordner. Hinter dem öffentlichen Ankläger flüstert jemand: »Was ist los, Camille?«
Plötzlich ertönte aus den Reihen der Angeklagten ein einzelner, durchdringender Schrei. Die Angeklagten sprangen auf die Füße, die Wachen umringten sie, die Verfahrensbeteiligten warfen ihre Unterlagen auf den Tisch und rafften sich hoch. Einer der Angeklagten, Charles Valazé, war rückwärts von der Bank geglitten. Mehrere Frauen im Publikum schrien auf, Leute liefen zusammen, um
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