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Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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katholische Jungen. Auch wenn er selbst seit Jahren nicht mehr in der Messe gewesen war; auch wenn Camille eine Woche, in der er nicht gegen sämtliche zehn Gebote verstieß, als vergeudet betrachtete. Seltsam, sich plötzlich da wiederzufinden, wo man begonnen hat. Oder wiederum auch nicht: Er erinnerte sich daran, wie Pater Proyart Camille einmal geohrfeigt hatte, weil er Plutarchs Lebensbeschreibungen in den Gottesdienst mitgenommen hatte. »Ich war gerade an einer so spannenden Stelle …«, hatte Camille gesagt. Plutarch galt damals als spannend. Kein Wunder, dass er immer über die Stränge geschlagen hat, wenn er den Priestern entwischt ist. Die haben Übermenschliches von uns erwartet. Und ich, ich habe mich weiter abgemüht, habe versucht, dieser Erwartung zu entsprechen – wobei mir nicht bewusst war, dass ich es tat, ich meinte, nach einem ganz anderen Credo zu leben.
    Seine gelöste Stimmung hielt nicht lange an. Er machte sich an einen dritten Entwurf. Wie schreibt man nur an Danton? Er zog sein Danton -Notizbuch hervor und las es durch. Klüger war er hinterher auch nicht, aber deutlich deprimierter.
     
    Jean-Marie Roland war in Rouen untergetaucht. An dem Tag, als er von der Hinrichtung seiner Frau erfuhr – es war der 10. November –, verließ er das Haus, in dem er sich versteckt hatte, und lief ungefähr fünf Kilometer aus der Stadt hinaus. Er hatte seinen Stockdegen dabei. Auf einem einsamen Weg neben einem Apfelbaumgarten machte er Halt und setzte sich unter einen der Bäume. Dies war der passende Ort, weiter brauchte er nicht zu gehen.
    Der Boden war steinhart, der Baumstamm kalt, Winter lag in der Luft. Er experimentierte; beim Anblick seines eigenen Blutes erschrak er, und ihm wurde übel. Trotzdem, dies war der richtige Ort.
    Seine Leiche wurde einige Zeit später von einem Spaziergänger gefunden, der ihn zunächst für einen schlafenden alten Mann gehalten hatte. Es war nicht zu erkennen, seit wann er tot war und ob er, von der schmalen Klinge durchbohrt, schnell oder langsam gestorben war.
    Am 11. November wurde im strömenden Regen Bürgermeister Bailly hingerichtet. Auf vielfachen Wunsch hatte man für diesen Anlass eine Guillotine auf den Champs-de-Mars aufgestellt, wo Lafayette 1791 auf die Menge hatte schießen lassen.
     
    »Camille«, sagte Lucile. »Da ist ein Marquis, der dich sprechen will.« Camille schaute von Vom Gottesstaat auf und schleuderte sich das Haar aus den Augen. »Unmöglich.«
    »Na gut, ein ehemaliger Marquis.«
    »Sieht er respektabel aus?«
    »Ja, sehr. In Ordnung? Dann gehe ich jetzt.«
    Nach all den Jahren steht ihr der Sinn plötzlich nicht mehr nach Politik. Vergniauds letzte Worte gehen ihr nicht aus dem Kopf: »Die Revolution ist wie Saturn, sie frisst ihre eigenen Kinder.« Der Satz hat sich den Phrasen und Parolen hinzugesellt, nach denen sie in den letzten Jahren gelebt zu haben scheint. (Gilt das Machtwort eines Vaters denn gar nichts mehr? Ich verstehe nicht, wieso alle immer jammern, dass sich heutzutage kein Geld verdienen lässt. Ich habe keinerlei Schwierigkeiten. Sie waren meine Freunde, und meine Schriften haben sie umgebracht.) Sie erklingen jede Nacht in ihren Träumen, liegen ihr im Gespräch auf der Zunge, die gemeinsame Währung der letzten fünf Jahre. (Es läuft alles nach Plan. Keinem Unschuldigen wird ein Haar gekrümmt. Ich verabscheue stabile Regierungen. Wir haben nichts zu befürchten. M. Danton gibt auf uns acht.) Sie verfolgt nicht mehr die Debatten im Nationalkonvent, sitzt nicht mehr mit Louise Robert auf der Besuchertribüne und isst Süßigkeiten. Sie war einmal beim Tribunal, hat sich angehört, wie Vetter Antoine seine Opfer eingeschüchtert hat, und dieses eine Mal hat ihr gereicht.
    »Es gab etwas Verwirrung hinsichtlich meiner Identität«, sagte de Sade zu Camille. »Ich hätte mich als Vertreter der Section des Piques melden lassen sollen. War mit den Gedanken woanders. Was heutzutage reicht, damit man als Verdächtiger denunziert wird.« Er streckte seine weiche kleine Hand aus und nahm Camille das Buch weg. »Erbauungsliteratur«, sagte er. »Mein Lieber. Doch nicht wegen …«
    »Meiner Ohnmacht? O nein. Meine übliche Zerstreuung. Ich arbeite an einem Buch über die Kirchenväter.«
    »Jedem das Seine«, sagte de Sade. »Wir Schriftsteller müssen uns umeinander kümmern, finden Sie nicht?«
    Er war jetzt Anfang fünfzig, ein kleiner, untersetzter Mann mit dünner werdendem gräulich-blondem Haar und

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