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Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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blassblauen Augen. Obwohl er zugenommen hatte, bewegte er sich immer noch mit einer gewissen Eleganz. Seine dunkle Kleidung und die angespannt-entschlossene Miene wiesen ihn als Anhänger des Terrors aus; er hatte eine Mappe mit Papieren dabei, die von einem extravaganten trikoloren Band zusammengehalten wurde. »Obszöne Zeichnungen?«, fragte Camille und deutete auf die Mappe.
    »Gütiger Gott«, sagte de Sade schockiert. »Sie glauben wohl, sie wären mir moralisch überlegen, M. Laternenanwalt?«
    »Ich bin den meisten Menschen moralisch überlegen. Ich kenne die gesamte Theorie und habe die erforderlichen ethischen Skrupel. Bloß mein Verhalten lässt manchmal zu wünschen übrig. Könnte ich meinen Augustinus wieder zurückhaben?«
    De Sade sah sich nach einem Tisch um und legte den Heiligen aufgeklappt hin, mit dem Rücken nach oben. »Sie entnerven mich«, sagte er. Camille schaute erfreut drein. »Ich dachte, Sie würden mir vielleicht gern von Ihren Reuegefühlen erzählen«, sagte der Marquis. Er setzte sich.
    Camille dachte einen Augenblick nach. »Nein … ich glaube nicht. Aber Sie können mir von Ihren erzählen, wenn Sie wollen.«
    »Die Bastille«, sagte de Sade. »Ein zweischneidiges Schwert, nicht wahr? Der Sturm auf die Bastille – Sie hat er berühmt gemacht. Dazu gratuliere ich Ihnen. Es zeigt, dass die Bösen gedeihen und selbst die Nicht-ganz-so-Bösen eindeutig im Vorteil sind. Außerdem war es ein großer Schritt für die Menschheit, wer immer das genau sein mag. Was mich betrifft, so wurde ich verlegt, ehe der ganze Ärger losging, und zwar in solcher Hast, dass ich das Manuskript meines neuen Romans habe liegen lassen. Ich bin am Karfreitag aus dem Gefängnis gekommen – nach elf Jahren, Camille –, und meine Unterlagen waren nirgends zu finden. Das war ein schwerer Schlag, das kann ich Ihnen sagen.«
    »Was war denn das für ein Roman?«
    »Die 120 Tage von Sodom.«
    »Du lieber Himmel«, sagte Camille. »Das ist jetzt über vier Jahre her. Hatten Sie denn nicht genug Zeit, um ihn neu zu schreiben?«
    »Das waren nicht irgendwelche 120 Tage «, sagte der Marquis. »Es war ein Meisterwerk der Imagination, das sich in diesen mageren Zeiten schlecht rekonstruieren lässt.«
    »Weshalb sind Sie gekommen, Bürger? Doch sicher nicht, um über Ihre Romane zu sprechen?«
    Der Marquis seufzte. »Einfach nur, um meine Ansichten kundzutun. Über unsere Zeit, wissen Sie. Ich fand es herrlich, was bei Brissots Verhandlung passiert ist – die Vorstellung, wie Sie in den Armen all dieser starken Männer wieder zu Sinnen kommen, wenn man denn von Sinnen reden kann. Tja – wie sehen Sie es denn heute: Wäre es möglich gewesen, Brissots Leute nicht hinzurichten?«
    »Zuerst habe ich das nicht geglaubt, aber jetzt denke ich – ja, wir hätten das hinkriegen können.«
    »Selbst nach Marats Tod?«
    »Es ist wohl nicht auszuschließen, dass das Mädchen es allein getan hat. Sie hat das ja behauptet. Aber niemand hat ihr zugehört. Brissots Verhandlung hat sich über mehrere Tage hingezogen. Die Angeklagten durften sich äußern. Sie haben Zeugen berufen. Die Zeitungen haben darüber berichtet. Der Prozess wurde nur beendet, weil Hébert Druck ausgeübt hat, sonst würden wir heute noch diskutieren.«
    »So ist es«, sagte de Sade.
    »Aber künftige Angeklagte werden diese Rechte nicht mehr haben. Es gilt als zu zeitaufwendig, als unrepublikanisch. Ich habe Angst vor den Folgen dieser verkürzten Prozesse. Ich glaube, dass jetzt Menschen umgebracht werden, die nicht umgebracht werden müssten. Aber das Töten geht weiter.«
    »Und die Urteile«, sagte de Sade. »Die Urteile im Gerichtssaal. Wissen Sie, Duelle, Blutrache, Verbrechen aus Leidenschaft, das alles billige ich. Aber die Maschinerie des Terrors entbehrt jeglicher Leidenschaft.«
    »Verzeihen Sie, aber mir ist nicht ganz klar, worüber Sie gerade reden.«
    »Ihre ersten Schriften waren so mitleidlos, ohne die üblichen großen Töne – ich habe damals große Hoffnungen auf Sie gesetzt. Aber jetzt bewegen Sie sich wieder zurück. Sie bereuen. Oder etwa nicht? Wissen Sie, im September war ich Sekretär meines Sektionsausschusses – nicht letzten September, sondern im Jahr davor, als wir die Gefangenen getötet haben. Das hatte so etwas Reines, Revolutionäres, Angemessenes, wie damals das Blut floss – die Geschwindigkeit, die Angst. Jetzt haben wir den Urteilsspruch der Geschworenen, das Haareschneiden, die Karren. Wir haben die

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