Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
Seufzer, ja selbst Schweigen als Straftaten zu behandeln …
Es war ein Verbrechen gegen den Staat, dass Libonius Drusus die Wahrsager fragte, ob er einmal reich werden würde … Es war ein Verbrechen gegen den Staat, dass einer von Cassius’ Nachfahren in seinem Haus ein Porträt seines Ahnen hängen hatte. Mamercus Scaurus beging ein Verbrechen, als er eine Tragödie schrieb, in der bestimmte Verse eine versteckte Bedeutung haben konnten. Es war ein Verbrechen gegen den Staat, dass die Mutter des Konsuls Furius Geminus den Tod ihres Sohnes betrauerte … Wer selbst dem Tod entgehen wollte, musste sich über den Tod eines Freundes oder Verwandten freuen.
Ein Bürger ist beliebt? Er könnte eine Faktion bilden. Verdächtig.
Er versucht sich aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen? Verdächtig.
Du bist reich? Verdächtig.
Du bist – allem Anschein nach – arm? Bestimmt verbirgst du etwas. Verdächtig.
Du bist melancholisch? Wahrscheinlich bedrückt dich die Lage der Nation. Verdächtig.
Du bist fröhlich? Du freust dich wohl über irgendeine nationale Katastrophe. Verdächtig.
Du bist Philosoph, Redner, Dichter? Verdächtig.
»Das hast du mir nicht gezeigt.« Robespierres Stimme war tonlos. Der Wind blies die letzten toten Blätter des Jahres an seinem Gesicht vorbei. Er fing eines, hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger, sodass sich die Blattadern im Licht des Nachmittags deutlich abzeichneten. Es war ein schöner Tag gewesen. Der Sonnenuntergang war ein fließendes Karminrot, und die letzten Sonnenstrahlen trafen den Fluss, ein eher unheilvoll als romantisch anmutendes Bild.
»Wie Blut«, sagte Camille. »Nun ja, eine naheliegende Assoziation. Ich habe dir nichts verheimlicht. Du hast den Tacitus vermutlich selbst im Regal stehen.«
»Das ist hinterhältig.«
»Du musst zugeben, dass es passt. Wäre dem nicht so, dann wäre die Öffentlichkeit nicht so darauf angesprungen. Ja, es ist ein Porträt unseres derzeitigen Lebens.«
»Und das hältst du ganz Europa vor Augen? Hättest du dich nicht zurückhalten können? Willst du zum Lieblingsautor des Kaisers werden? Willst du eine Glückwunschadresse von Mr. Pitt? Ein Feuerwerk in Moskau und Toasts auf deine Gesundheit in den Emigrantenlagern jenseits des Rheins?« Er sprach mit ausdrucksloser Ruhe, als wären das alles vernünftige Fragen. »Sag es mir.« Er legte die Hände flach auf die steinerne Brüstung der Brücke und wandte sich Camille zu; er wartete.
»Was machen wir hier draußen?«, fragte Camille. »Es ist kalt.«
»Ich möchte lieber draußen mit dir reden. Drinnen kann man nichts geheim halten.«
»Siehst du – du gibst es selbst zu. Du bist besessen von der Angst vor Verschwörungen. Willst du auch Backsteinmauern und Türpfosten guillotinieren?«
»Ich bin von überhaupt nichts besessen – außer vielleicht von dem Wunsch, das Beste für unser Land zu tun.«
»Dann beende den Terror.« Camille fröstelte. »Du hast die moralische Führung. Wenn es jemand tun kann, dann du.«
»Damit um uns herum die Regierung zusammenbricht? Der Ausschuss zu Fall kommt?« Er sprach jetzt in einem hastigen, drängenden Flüstern. »Das kann ich nicht machen. Es ist zu riskant.«
»Lass uns ein paar Schritte gehen.« Sie gingen los. »Besetz den Ausschuss um«, sagte Camille. »Mehr verlange ich gar nicht. Mit Collot und Billaud-Varennes solltest du nicht zusammenarbeiten.«
»Du weißt, warum sie da sind: zur Beschwichtigung der Linken.«
»Ich vergesse immer wieder, dass nicht wir die Linke sind.«
»Willst du, dass es zu einem Aufstand kommt?«
Camille blieb stehen, schaute über den Fluss. »Ja, wenn es sein muss. Ja.« Er versuchte, die in ihm aufwallende Panik zu unterdrücken, sein Herzrasen zu stoppen; Robespierre war keinen Widerspruch mehr gewohnt, und er war es nicht mehr gewohnt, Robespierre zu widersprechen. »Lass es uns ausfechten, ein für alle Mal.«
»Ist es das, was Danton will? Noch mehr Gewalt?«
»Max, was meinst du eigentlich, was Tag für Tag auf der Place de la Révolution geschieht?«
»Mir ist es lieber, wir opfern Aristokraten als einander. Meine Loyalität gilt der Revolution und den Männern, die sie angefangen haben. Aber du machst sie vor den Augen von ganz Europa schlecht.«
»Hältst du es für Loyalität, die wahren Zustände zu vertuschen und so zu tun, als herrschten Vernunft und Gerechtigkeit?« Das Licht war in den Fluss geschwunden, und jetzt erhob sich ein Abendwind; er zerrte mit kalter,
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