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Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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trank einen heißen Kräutertee, um sich von jeglichen verbliebenen Hoffnungen zu kurieren.
    Danach war Claude ihr einige Monate lang mit Misstrauen und Zurückhaltung begegnet. Noch jetzt, wenn sie sich nicht gut fühlte oder launisch war, nahm er auf den Vorfall Bezug und erklärte, mittlerweile habe er ja gelernt, mit ihrem labilen Naturell zu leben, doch als jungen Mann habe ihn das sehr überrascht.
    Nach der Geburt ihrer Töchter hatte sie eine kurze Affäre gehabt. Ein Freund ihres Mannes, Anwalt, blond und stämmig; als sie das letzte Mal von ihm hörte, lebte er in Toulouse, mit einer rotgesichtigen wassersüchtigen Frau und fünf Töchtern, die eine Klosterschule besuchten. Sie hatte das Experiment nicht wiederholt. Claude hatte nichts davon erfahren. Andernfalls hätte sich vielleicht etwas ändern müssen, aber da er es nicht herausgefunden hatte – es eisern, mannhaft, vorsätzlich nicht herausgefunden hatte –, war es sinnlos, so etwas noch einmal zu tun.
    Und so seien die folgenden Jahre übersprungen, bis zu dem Zeitpunkt, an dem etwas begann, was nicht in die Kategorie »Affäre« passt: Im Alter von zweiundzwanzig Jahren trat Camille in ihr Leben. Stanislas Fréron, dessen Familie mit der ihren bekannt war, hatte ihn eines Tages mitgebracht. Camille sah aus wie siebzehn. Es sollte noch vier Jahre dauern, bis er alt genug war, um als Anwalt zugelassen zu werden. Man konnte sich das nicht recht vorstellen. Er sprach stockend und seufzend, zögernd und zaudernd. Manchmal zitterten seine Hände. Es fiel ihm schwer, Leuten ins Gesicht zu sehen.
    Er ist brillant, sagte Stanislas Fréron. Der wird mal berühmt. Ihre Gegenwart, ihr Haushalt schienen ihm Angst und Schrecken einzujagen. Aber er kam immer wieder.
    Ganz am Anfang hatte Claude ihn einmal zum Souper eingeladen. Die Gästeliste war mit Bedacht so zusammengestellt, dass ihr Mann Gelegenheit haben würde, seine wirtschaftliche Prognose für die nächsten fünf Jahre kundzutun – sie war düster – und Geschichten vom Abbé Terray zu erzählen. Camille saß angespannt und fast wortlos da und bat M. Duplessis nur manchmal mit seiner leisen Stimme, etwas präziser zu sein, ihm darzulegen, wie er auf eine bestimmte Zahl kam. Claude ließ sich Feder, Papier und Tinte bringen. Er schob einige Teller zur Seite und neigte den Kopf; an seinem Ende des Tisches hörte man auf zu essen. Die übrigen Gäste schauten verdutzt herüber und setzten dann ihre höfliche Konversation fort. Während Claude vor sich hin murmelte und schrieb, schaute Camille ihm über die Schulter, focht seine Vereinfachungen an und stellte ihm noch ausführlichere, triftigere Fragen. Claude schloss einen Moment lang die Augen. Zahlen purzelten aus seiner Feder, landeten auf dem Blatt wie Stare im Schnee.
    Sie hatte sich über den Tisch gebeugt: »Liebster, könntest du das …«
    »Einen Augenblick –«
    »… wenn es so kompliziert ist …«
    »Hier, sehen Sie – und hier –«
    »… wohl hinterher erläutern?«
    Claude wedelte mit einer Bilanz. »Ungefähr«, sagte er. »Nur ungefähr. Aber auch die staatlichen Rechnungsprüfer bleiben im Ungefähren – es gibt Ihnen zumindest eine Vorstellung.«
    Camille nahm ihm das Blatt ab und überflog es, dann schaute er auf, und sein Blick traf den ihren. Sie war verblüfft, ja schockiert von der – Emotionalität, anders konnte sie es nicht nennen. Sie wandte die Augen von ihm ab, richtete sie auf andere Gäste, suchte Beruhigung bei ihnen. Was er letztlich nicht verstehe, sagte Camille – wahrscheinlich stelle er sich einfach nur dumm an –, sei das Verhältnis der verschiedenen Ministerien untereinander und wie sie zu ihrem jeweiligen Etat kämen. Nein, sagte Claude, das sei keineswegs dumm, ob er es ihm erläutern dürfe?
    Claude schob seinen Stuhl nach hinten und erhob sich von seinem Platz am Kopfende der Tafel. Ihre Gäste blickten auf. »Wir können da sicher alle viel lernen«, sagte ein Ministerialrat. Doch er blickte zweifelnd drein, während Claude nun durchs Zimmer ging, sehr zweifelnd sogar. Als er an Annette vorbeikam, streckte sie die Hand aus, wie um ein Kind zurückzuhalten. »Ich will nur die Obstschale holen«, sagte Claude: als wäre das völlig plausibel.
    Wieder an seinem Platz, stellte er die Schale mitten auf den Tisch. Eine Orange fiel heraus und rollte langsam um die Schale herum wie ein lebendiges Wesen auf dem Weg zurück in die Tropen. Die Gäste beobachteten sie alle. Die Augen auf Claude

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