Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
Vom Netzwerk:
hatten angespannte, verstörte Mienen. Kaffee wurde serviert: schwarz und bitter wie verpasste Gelegenheiten.
    Am nächsten Tag kam Claude noch einmal auf das Souper zu sprechen. Das Tischgespräch sei sehr anregend gewesen, viel interessanter als die üblichen, so banalen Unterhaltungen bei derartigen Anlässen. Wenn ihre Geselligkeiten immer so verliefen, wären sie ihm nicht so lästig – ob sie wohl diesen jungen Mann, dessen Name ihm leider entfallen sei, wieder einmal einladen könne? Er sei so charmant, so interessiert – ein Jammer, dass er stottere, und ob er womöglich auch ein bisschen begriffsstutzig sei? Er hoffe, der junge Mann habe keinen falschen Eindruck von den Vorgängen im Finanzministerium gewonnen.
    Wie quälend, dachte sie, ist die Lage des Narren, der weiß, dass er ein Narr ist, und wie angenehm ist im Vergleich dazu Claudes Verfassung.
    Als Camille das nächste Mal kam, waren seine Blicke diskreter. Es war, als bestünde ein stillschweigendes Einvernehmen zwischen ihnen, nichts zu überstürzen. Interessant, dachte sie. Interessant.
    Er erzählte ihr, dass er nicht die juristische Laufbahn einschlagen wolle – doch was sonst? Er sei durch die Bedingungen seines Stipendiums festgelegt. Eigentlich wolle er – wie Voltaire – nur einen Beruf ausüben, nämlich den des Homme de Lettres. »Ach, Voltaire«, sagte sie. »Ich kann den Namen nicht mehr hören. Glauben Sie mir, Hommes de Lettres werden in den kommenden Jahren der reine Luxus sein. Wir werden alle hart arbeiten und auf Zerstreuungen verzichten müssen. Wir werden alle Claude nacheifern müssen.« Er fuhr sich übers Haar. Ihr gefiel diese Geste, sie war charakteristisch für ihn: nutzlos, aber einnehmend. »Das sagen Sie doch nur. Aber im Grunde Ihres Herzens glauben Sie es nicht. Im Grunde Ihres Herzens glauben Sie, dass alles weitergehen wird wie bisher.«
    »Erlauben Sie mir«, sagte sie, »über mein Herz besser Bescheid zu wissen als Sie.«
    Im Laufe der Nachmittage wurde ihr immer deutlicher, wie unpassend ihre Freundschaft war. Nicht nur seines Alters, sondern seiner ganzen Lebensgestaltung wegen. Seine Freunde waren arbeitslose Schauspieler, oder sie schlüpften tintenverschmiert aus irgendwelchen Hinterhofdruckereien. Sie hatten uneheliche Kinder und subversive Ansichten; gingen ins Ausland, wenn ihnen die Polizei auf die Spur kam. Es gab das Salonleben, und dann gab es noch dieses andere Leben. Sie hielt es für das Beste, dazu keine Fragen zu stellen.
    Er kam weiterhin zum Souper. Zwischenfälle gab es keine mehr. Manchmal lud ihn Claude übers Wochenende mit einer kleinen Gesellschaft nach Bourg-la-Reine ein, wo er etwas Land und ein komfortables Bauernhaus besaß. Die Mädchen, dachte sie, hatten ihn richtig ins Herz geschlossen.
    Seit rund zwei Jahren sahen sie einander sehr häufig. Einer ihrer Freunde, der sich mit so etwas angeblich auskannte, hatte ihr gesagt, Camille sei homosexuell. Sie glaubte das nicht, hielt es aber in der Hinterhand für den Fall, dass ihr Mann sich beschwerte. Doch warum hätte er sich beschweren sollen? Da war nur ein junger Mann, der zu Besuch kam. Es war nichts zwischen ihnen.
    Eines Tages fragte sie ihn: »Kennen Sie sich mit Wildblumen aus?«
    »Nicht sonderlich.«
    »Lucile hat nämlich in Bourg-la-Reine eine Blume gepflückt und mich gefragt, was das sei. Ich hatte keine Ahnung, habe ihr aber vertrauensvoll versichert, Sie wüssten alles, und deshalb habe ich die Blume in meinem Buch« – sie griff danach – »gepresst und ihr gesagt, dass ich Sie danach fragen würde.«
    Sie setzte sich neben ihn, das dicke Wörterbuch in der Hand, in das sie Briefe, Einkaufslisten und alles mögliche andere steckte, was sie sicher aufbewahren wollte. Sie öffnete das Buch – vorsichtig, sonst wäre der ganze Inhalt herausgerutscht. Er untersuchte die Blume. Mit dem Fingernagel hob er sacht das eine, papierartige Blättchen an und betrachtete dessen Unterseite mit gerunzelter Stirn. »Wahrscheinlich ein weit verbreitetes giftiges Unkraut«, sagte er.
    Er legte den Arm um sie und versuchte sie zu küssen. Sie machte einen Satz zur Seite, eher aus Überraschung als willentlich, ließ das Wörterbuch fallen, und alles flog heraus. Es wäre durchaus korrekt gewesen, ihm eine Ohrfeige zu geben, aber was für ein Klischee, dachte sie, außerdem war sie durch ihr Ausweichen aus dem Gleichgewicht geraten. Sie hatte das eigentlich schon immer mal tun wollen, aber eher mit jemand Robusterem, und so kam

Weitere Kostenlose Bücher