Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
gerichtet, streckte Camille die Hand aus und hielt die Orange an. Er gab ihr einen kleinen Schubs, und sie rollte quer über den Tisch zu Annette, die gebannt danach griff. Alle Gäste beobachteten sie; sie errötete leicht, als wäre sie fünfzehn. Ihr Mann griff nach der Suppenterrine, die auf einem Beistelltisch stand, und nahm dann einem Diener, der abräumen wollte, eine Schüssel mit Gemüse ab. »Also, die Obstschale ist der Fiskus«, sagte er.
Claude stand jetzt im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, das Geplauder verstummte. »Und die Suppenterrine ist der Justizminister, der natürlich zugleich auch Siegelbewahrer ist.«
»Claude –«, sagte sie.
Er hieß sie schweigen. Fasziniert, wie gelähmt, folgten die Gäste der Bewegung der Speisen auf dem Tisch. Geschickt entwand Claude den Fingern des Ministerialrats das Weinglas. Mit seiner ausgestreckten Hand sah der hohe Beamte jetzt aus wie jemand, der bei einer Scharade einen Harfenspieler mimt; seine Miene verfinsterte sich, doch Claude bemerkte es nicht.
»Sagen wir, dieses Salzfässchen ist der Staatssekretär.«
»So viel kleiner«, staunte Camille. »Ich wusste gar nicht, dass die so unbedeutend sind.«
»Und diese Teelöffel sind Schatzanweisungen. Also …«
Ja, sagte Camille, aber ob er vielleicht verdeutlichen, erklären, noch einmal auf das zurückkommen könne, was er gerade gesagt – ja, sagte Claude, völlig richtig, man müsse sich ein korrektes Bild machen. Er griff nach einer Wasserkaraffe, um die Proportionen zu korrigieren; seine Augen leuchteten.
»Das ist besser als jedes Kaspertheater«, flüsterte jemand.
»Vielleicht fängt die Terrine gleich an, mit quäkiger Stimme zu sprechen.«
Lass ihn Erbarmen haben, flehte Annette, bitte, lass ihn mit diesen Fragen aufhören. Sie sah, wie er Claude mit ein paar wohlgesetzten kleinen Kunstgriffen in Szene setzte, während ihre Gäste mit offenem Mund an der in Unordnung gebrachten Tafel saßen, ihres Bestecks entledigt, ohne Dessert, die Gläser leer oder entwendet, sah, wie sie Blicke austauschten und ihre Belustigung unterdrückten; die ganze Stadt wird davon reden, von Ministerium zu Ministerium wird es weitererzählt werden, von Gericht zu Gericht, und die Leute werden sich an der Geschichte von meinem Souper delektieren. Bitte lass ihn aufhören, dachte sie, bitte lass irgendetwas passieren, damit er aufhört – nur was? Vielleicht, dachte sie, ein kleines Feuer?
Und die ganze Zeit über, während sie zusehends nervös wurde, sich umschaute, ein Glas Wein kippte und sich mit einem Taschentuch den Mund abtupfte, brannten sich Camilles glutvolle Augen über das Blumenarrangement hinweg in ihre. Mit einem entschuldigenden Nicken und einem beschwichtigenden Lächeln, das auch die Gaffer einbezog, erhob sie sich schließlich und rauschte aus dem Zimmer. Zehn Minuten lang saß sie vor ihrer Frisierkommode, erschüttert von der Richtung, die ihre Gedanken nahmen. Sie hatte sich nachschminken, nicht aber diese Leere und Verlorenheit in ihren Augen sehen wollen. Es war schon einige Jahre her, dass Claude und sie das letzte Mal miteinander geschlafen hatten – was spielt das für eine Rolle, warum stellt sie diese Rechnung an, soll sie sich vielleicht auch Feder und Papier bringen lassen und das Defizit ihres Lebens errechnen? Claude meint, wenn es so weitergeht, wird das Land spätestens ’89 vor die Hunde gegangen sein und wir alle mit ihm. Sie sieht sich im Spiegel, in ihren großen blauen Augen stehen jetzt unerklärlicherweise Tränen, die sie sofort wegtupft, so wie sie vorher den Rotwein von ihren Lippen getupft hat. Vielleicht habe ich zu viel getrunken, vielleicht haben wir alle zu viel getrunken, alle außer diesem bösartigen Jungen, und was immer ich ihm auch sonst im Laufe der Zeit noch werde verzeihen müssen und können: Dass er mein Souper ruiniert und Claude lächerlich gemacht hat, werde ich ihm niemals verzeihen. Warum umklammere ich diese Orange, fragte sie sich. Sie starrte auf ihre Hand hinunter wie Lady Macbeth: Wehe! In unserm Haus?
Als sie zu ihren Gästen zurückkehrte – das parfümierte Blut unter den Nägeln –, war die Vorführung vorbei. Die Gäste verlustierten sich mit Petits Fours. Claude blickte zu ihr auf, wie um zu fragen, wo sie gewesen sei. Er sah fröhlich aus. Camille beteiligte sich nicht mehr am Tischgespräch. Er hatte den Blick gesenkt und trug eine Miene zur Schau, die sie bei ihren Töchtern sittsam genannt hätte. Alle anderen Gäste
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