Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
Pariser Stadtmauer die Abgaben kassierten. Es gab Männer, die ihr ganzes Arbeitsleben lang Totengräber gewesen waren, von Kindesbeinen an. Deren Gedanken in fremden Bahnen verliefen. Von denen man nichts wusste und nichts wissen konnte. Er schaute zu Fabre hinüber. »Mein bedeutendstes Werk liegt noch vor mir«, sagte Fabre. Mit einer Geste deutete er die Dimension dieses Werkes an. Schaumschlägerei, dachte d’Anton. Fabre war ein Mann in Bereitschaft, ein Mann wie ein aufgezogenes mechanisches Spielzeug, und Camille betrachtete ihn mit der Miene eines Kindes, das überraschend etwas geschenkt bekommen hat. Das Gewicht der alten Welt ist erdrückend, und schon allein der Gedanke daran, sich von dieser Last zu befreien, ermüdet. Der nie enden wollende Meinungsaustausch ermüdet, das Hantieren mit Papieren, die Haarspaltereien, das ständige Feilen an der eigenen Haltung. Irgendwo musste es eine einfachere, gewalttätigere Welt geben.
LUCILE : Nicht zu handeln hat seine eigenen, subtilen Vorzüge, doch jetzt, denkt sie, ist es an der Zeit, ein wenig nachzuhelfen. Ihre Kindertage lagen hinter ihr, jene Zeit der Porzellanpuppe mit dem Strohherz. Die hatten die beiden, Maître Desmoulins und ihre Mutter, so wirksam abserviert, als hätten sie ihr den Porzellanschädel zertrümmert. Seit jenem Tag waren Körper realer – zumindest die Körper der beiden, wenn schon nicht ihr eigener. Sie waren konkret, greifbar. Dieser Überlegenheit war Lucile sich schmerzlich bewusst, und wenn sie Schmerz empfinden konnte, dann wurde wohl auch ihr Körper leiblicher.
Hochsommer: Brienne, der Generalkontrolleur der Finanzen, nahm bei der Stadt Paris einen Kredit in Höhe von zwölf Millionen Livres auf. »Ein Tropfen auf den heißen Stein«, sagte M. Charpentier. Das Café stand zum Verkauf, er und Angélique wollten aufs Land ziehen. Annette tat ihre Pflicht gegenüber dem schönen Wetter und machte Ausflüge in die Jardins de Luxembourg. Sie war oft mit den Mädchen und Camille dort spazieren gegangen; im vergangenen Frühling hatten die Blüten ein wenig säuerlich gerochen, als wären sie schon einmal in Gebrauch gewesen.
Lucile hatte viel Zeit damit verbracht, Tagebuch zu schreiben: Sie hatte die Handlung ausgearbeitet. Jener Freitag, zunächst ein Freitag wie jeder andere, an dem mein Schicksal aus der Küche heraufgebracht und in meine unwissenden Hände gegeben wurde. Wie ich in jener Nacht – von Freitag auf Samstag – den Brief aus seinem Versteck nahm und ihn an das kalte, zerknitterte Leinen meines Nachthemdes drückte, ungefähr auf Höhe meines bebenden Herzens: das knisternde Papier, das flackernde Kerzenlicht und ach, meine armen kleinen Gefühle. Da schon wusste ich, dass mein Leben im September völlig anders aussehen würde.
»Ich habe mich entschieden«, sagte sie. »Ich werde Maître Desmoulins doch heiraten.« Ganz sachlich registrierte sie, wie hässlich ihre Mutter wurde, wenn Angst und Ärger ihren klaren Teint mit roten Flecken überzogen.
Sie muss für die bevorstehenden Konflikte üben. Nach dem ersten Zusammenstoß mit ihrem Vater läuft sie unter Tränen in ihr Zimmer hinauf. Die Wochen verstreichen, und in ihrem Innern herrscht wachsender Aufruhr, genau wie draußen auf der Straße.
Die Demonstration hatte vor dem Gerichtsgebäude begonnen. Die Anwälte sammelten ihre Unterlagen ein und diskutierten darüber, ob es besser wäre, zu bleiben, wo sie waren, oder zu versuchen, sich durch die Menge zu drängen. Es hatte einen Toten gegeben, vielleicht sogar zwei. Daher erschien es ihnen letztlich sicherer, zu bleiben, wo sie waren, bis der Platz komplett geräumt war. D’Anton fluchte auf seine Kollegen und machte sich auf den Weg über das Schlachtfeld.
Es gab unglaublich viele Verletzte. Größtenteils hatten sie Quetschungen erlitten, mit Ausnahme derer, die in Handgemenge mit den Wachtposten verwickelt gewesen waren. Ein respektabel gekleideter Mann ging umher und zeigte den Leuten ein Einschussloch in seinem Mantel. Auf dem Pflaster saß eine Frau, die mit schriller, hysterischer Stimme immer wieder fragte: »Wer hat das Feuer eröffnet, wer hat die Order erteilt, wer hat ihnen das befohlen?«, und eine Erklärung verlangte. Auch zu mehreren Messerstechereien war es gekommen, wobei unklar war, warum.
Er entdeckte Camille, der vor einer Mauer auf die Knie gesackt war und eine Art Zeugenaussage mitschrieb. Der Mann, der zu ihm sprach, lag auf dem Boden, Kopf und Schultern aufgestützt. Die
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