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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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allem, was wir uns sonst immer beichten. Vorhin gerade habe ich dir noch erzählt, wie ich mit Lydia geschlafen habe, mit allen Einzelheiten, intimer geht’s gar nicht. Und über den Inhalt einer Schreibgeschichte bewahre ich Stillschweigen, wie paßt denn das zusammen? Ich sag’s dir: Eine Geschichte zu schreiben, ist was viel Intimeres, als eine zu leben.«
    »Fffft«, machte Britta; tief hatte sie Luft geholt, und nun atmete sie, den Kopf in den Nacken gelegt, langsam aus.
    »Stöhne nur, ich kann bloß wiederholen, ich muß diese Geschichte für mich behalten, und zwar, bis sie fertig ist.«
    »Aber wo die Sache spielt, das wirst du mir doch wenigstens sagen können. Spielt sie in dem Kerker, in dem dieser Iwan … wie hieß er gleich …«
    »Iwan Antonowitsch.«
    »… Antonowitsch gesessen hat?«
    Matti lächelte in sich hinein. Das war wieder typisch Britta. Man konnte sie nie ganz abblocken, so ungezwungen, wie sie immer herantänzelte, man hätte doch gleich ein fürchterlich schlechtes Gewisssen. Er entschloß sich, ihr so weit wie möglich entgegenzukommen und alle Fragen zu beantworten, die nicht den Fortgang der Geschichte selber betrafen. »Sie spielt in dem Kerker, ja. Aber das ist nicht erkennbar. Ich nenne keinen Ort, ich beschreibe einfach nur ein Gefängnis auf einer Insel. Alles könnte also genausogut woanders spielen. Vor meinem inneren Auge stand aber immer die Schlüsselburg, wo Iwan Antonowitsch gefangengehalten wurde. Ich habe sie mir sogar extra angesehen im vorigen Jahr. Sie liegt da, wo die Newa aus dem Ladogasee fließt, auf einer Insel gar nicht weit von Leningrad entfernt …«
    »Ach – warst du in Wahrheit deshalb in Leningrad?«
    »Richtig. Als ich beim Reiseantrag angab, mich interessiere brennend wie sonst nichts die Geschichte dieser Stadt, meinte ich die Schlüsselburg. Das andere habe ich natürlich gern mitgenommen, und das war auch schön und beeindruckend: die Ermitage, Petrodworez, die vielen Kanäle. Aber auf die Burg, die nebenbei bemerkt ziemlich verfallen ist, kam’s mir an. Ich habe mir alles, was noch zu sehen ist, eingeprägt und mir vorsichtshalber Notizen gemacht. Fotos habe ich auch ein paar geschossen. Aber weißt du, was das Verrückte ist? Beim Schreiben mußte ich dann überhaupt nicht mehr darin lesen oder darauf gucken. Die Geschichte hat sich verselbständigt, von dem eigentlichen Ort weg beziehungsweise tiefer in ihn hinein …«
    »Halt halt«, rief Britta, »was denn nun: weg oder tiefer hinein?«
    »Beides. Ich habe mehr und mehr von dem Ort abstrahiert – und zugleich hatte ich das Gefühl, ihm immer näher zu kommen. Seinem Kern und seinem Wesen. Das war beglückend. Und überhaupt, das ganze Schreiben …« Matti schüttelte den Kopf.
    Es war nun schon nach Mitternacht. In der Dunkelheit konnte Britta Mattis Gesichtszüge nicht mehr erkennen, aber in seiner Stimme hatte ein ungeheures Staunen gelegen. Britta bat ihn: »Rede weiter. Versuche, es mir zu erklären.«
    »Ich will sagen … paß auf, ohne zuviel zu verraten: Ich fing zweimal an mit der Geschichte. Beim ersten Mal schrieb ich lauter kurze, einfache Sätze. Ich dachte, das sei dem Gegenstand angemessen. Es geht ja, grob umrissen, um ein Kind, das im Knast sitzt und seine Anlagen nicht entwickeln kann. Es lebt auf primitivstem Niveau. Ja, und ich meinte, dementsprechend sollte der Stil sein. Aber das war falsch, wie ich nach vielleicht zwei Dutzend Seiten merkte. Ich kam nicht tiefer in die Beschreibung hinein, ich konnte auf diese Weise nicht genug ausdrücken. Also startete ich einen neuen Versuch, wobei ich eine ganz andere Perspektive einnahm. Ein Gelehrter, dem erlaubt wird, das Kind zu sehen, erzählt. Ich mußte seine Sprache erst an mich heranziehen, sie war mir doch sehr fremd, aber dann verleibte ich sie mir ein. Und jetzt, da sie richtig in mir drin ist, habe ich mit ihr die herrlichsten Möglichkeiten. Mit ihrer Hilfe hole ich Sachen ans Tageslicht, von denen ich nicht wußte, daß sie überhaupt existieren. Eine Wendung ergibt sogleich die nächste. Mir kommen Gedanken, für die ich mich eigentlich noch gar nicht reif fühle. Wie gesagt, das ist alles äußerst seltsam … aber in diesem Zusammenhang noch einmal zu Karin Werth: Je mehr nun die Geschichte meine geworden ist und je weiter und intensiver ich sie vorantreibe, umso weniger denke ich noch an sie, also an Karin. Die Geschichte, die ich ihretwegen begonnen habe, führt mich jetzt unwiederbringlich weg von ihr. Ich

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