Brüder und Schwestern
intensiver, je länger Matti ihn erwiderte. Immer weiter ging das zwischen den beiden, stumm sich in die Pupillen starrend, schon das Weiße der Augen war vernachlässigtes Randgebiet, bewegte sich einer in den anderen hinein, und derart verbunden, derart eins blieben sie, bis nach zehn Sekunden? nach fünfzehn? zwanzig? der erste Lidschlag sie wieder trennte.
Matti hatte nicht gewußt, daß sich so etwas ereignen konnte, und als er, viel später, die Wohnung verließ und durch die nächtlichen Straßen streunte, war er sich sicher, es handele sich um etwas buchstäblich Unerklärliches. Nicht einmal mit Catherine selber würde er je darüber reden können oder wollen. Erst recht nicht mit ihr! Denn welche Worte er auch gebrauchen würde, sie wußte doch als einzige außer ihm, wie es wirklich gewesen war.
Aber warum verließ er überhaupt die Wohnung nach getaner Arbeit, warum blieb er denn nicht bei Catherine in dieser Nacht, wenn sich alles so großartig anließ mit ihr?
Eben darum. Weil es sich so anließ. Beide spürten, daß es genug war für heute; Catherine holte noch zwei Bierflaschen aus der Speisekammer, sie lehnten sich mit ihrem Rücken an den längst wieder bollernden Ofen und tranken die Flaschen mit langen Schlucken aus. Im Weggehen fragte Matti, ob sie sich morgen um die gleiche Zeit treffen würden, und Catherine antwortete, indem sie ihren Hinterkopf wie eine Katze an den Kacheln rieb und dabei einen sonderbaren Laut ausstieß, einen zwischen Glucksen, Röcheln und Stöhnen.
Matti hatte zu diesem Zeitpunkt noch eine Ein-Raum-Wohnung am Tierpark, die ihm von der Stromreederei zur Verfügung gestellt worden war, da ging er hin wie betäubt, in einer Art gelenklosem Gleiten, er spürte keinen Knochen mehr und keinen Muskel. Wie aus weiter Ferne, und wie tonlos, flogen Karin Werths Abschiedsworte heran, es würden noch bessere Frauen kommen. Bis jetzt hatte er gemeint, jener Satz sei von ihr nur so dahingesprochen gewesen, aus Mitleid. Vielleicht verhielt es sich ja auch so. Sicher. Und trotzdem hatte sich ihr Satz nun als wahr erwiesen.
Matti verspürte plötzlich den dringenden Wunsch, das Karin Werth mitzuteilen, wegen seines enormen Glücksgefühls, aber ein bißchen auch als Rache dafür, daß sie ihn erst richtig wild gemacht und sich dann so schnell verflüchtigt hatte.
*
Am nächsten Vormittag führten ihn seine Schritte, ohne daß er sie dahin gelenkt hätte, in die Staatsbibliothek Unter den Linden, wo er Catherine wußte. Er suchte Saal für Saal nach ihr ab, und als er sie gefunden hatte, trat er leise von hinten an sie heran. Sie saß, den Unterkiefer auf ihre Handballen gestützt, mit den Fingern ihre Ohrläppchen umschließend, regungslos über einem Buch. Ihr bronzefarbener Nacken glänzte im Schein der künstlichen Beleuchtung. Matti drückte seine Lippen darauf. Sie fuhr herum, aber er ging, ohne ihr noch einen Blick zu schenken, schon wieder weg, gemessenen Schrittes an den hohen Bücherregalen entlang zur Tür zurück. Auf halbem Wege drehte er sich doch um. Catherine schüttelte langsam, wie in Trance, den Kopf, und machte dann plötzlich Anstalten, ihm hinterherzulaufen. Matti bedeutete ihr mit einer kargen Geste, in der untergründiger Triumph lag, sie solle jetzt mal hübsch sitzen bleiben und weiterlernen. Und in kühnem Schwung drehte er sich um 180 Grad und verließ den Saal.
Als er am Abend endlich in Catherines Wohnung trat, schlug ihm Wärme entgegen. Er war nicht später erschienen als gestern, aber Catherine mußte die Bibliothek früher verlassen haben.
Auch war der Tisch gedeckt, wie Matti bei einem Blick ins Wohnzimmer bemerkte. In der Küche blubberte leise irgendein Gericht.
Er fragte Catherine mit gespielter Überraschung, ob sie nicht die Wand streichen wollten, und Catherine antwortete: »Die Wand? Nicht daß ich wüßte, war was mit der?«
Sie trat, wie um sie sich anzuschauen, in den Türrahmen zwischen Wohn- und Schlafzimmer. Er folgte ihr, und sie starrten ein paar Sekunden auf die kahle Wand, vor der Catherines Bett stand.
Matti war plötzlich ganz gefühllos, das einzige, was er spürte, war die Gewißheit, daß sie jetzt, da es sie bis an diese Stelle getrieben hatte, nicht mehr zurückkonnten. Er langte nach der Schlüsselringkette, die sie wieder trug, über einem schwarzen Kleid heute, vor dem das Gold der Ringe erst recht zur Geltung kam, und versuchte, die Kette zu öffnen. Aber es wollte ihm nicht glücken. Er probierte es an anderer
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