Brüder und Schwestern
dringlich und gar unaufschiebbar erschien: Mal war er zur Haustür gerannt, um zu prüfen, ob sie verschlossen war, mal hatte er seinen arg strapazierten Winterschuhen neues Fett verpaßt, und mal hatte er gemeint, es sei höchste Zeit, die silbrigen Drähte zu kürzen, die ihm aus den Nasenlöchern sprossen.
Dann aber fand er doch in den Text hinein. Willy, das war das eine, interessierte sich zunehmend für den Fortgang der Geschichte, er wollte unbedingt wissen, ob Antonio vom verschlagenen Obersten getötet wurde oder wider Erwarten irgendwann freikam. Auch was weiter mit Karandasch geschah, war ihm nicht einerlei, denn ohne daß er zu sagen gewußt hätte, warum, galt dem Magister seine größte Sympathie, eine noch viel größere als dem armen Jungen. Beinahe schämte sich Willy deswegen vor Antonio. Zum anderen aber berührte ihn Mattis Sprache auf eine geheimnisvolle Weise. Sie erschien ihm antiquiert und modern zugleich, ein verblüffendes Zwischending, und er fühlte sich durch sie, wieder ohne daß er es hätte begründen können, ans Meer erinnert: wie es tagelang gleichmäßig und fast schon träge vor sich hin wellte und doch keinen Zweifel an seiner enormen Kraft ließ, an seiner Fähigkeit zum plötzlichen Ausbruch. Kurzum, Willy geriet in ein stilles und andächtiges Schwärmen.
Als er, es war schon halb drei am Morgen, und er war noch aufgewühlt von dem gerade zu Ende Gelesenen, endlich im Bett lag, beschlich ihn plötzlich das ungute Gefühl, seine Begeisterung beruhe auf Hirngespinsten. Er hatte doch gar keinen Vergleich zur Hand beziehungsweise im Kopf. Vielleicht fand er den Text einzig und allein deshalb so großartig, weil er fast keine anderen Texte kannte? Und schließlich, vielleicht hatte er sich alles schöngelesen, weil es ja von seinem Sohn stammte, von demjenigen seiner Söhne, den er immer nur in bestem Licht sah?
Aber nein, meinte Willy dann, eben weil es von ihm stammt, bin ich doch besonders kritisch an diese Angelegenheit herangegangen, niemals würde ich etwas weiterleiten, womit er, gerade er sich der Lächerlichkeit preisgäbe. Überhaupt nicht lächerlich ist es, was er fabriziert hat, also werde ich mich jetzt um dieses Manuskript kümmern, ohne jede Verzögerung.
Vier Stunden später betrat er, ganz in Schwarz gekleidet, sein Büro im »Aufbruch«. Wo ihn schon Dorle Perl erwartete. Es war sein erster Arbeitstag seit Ruths Tod, und daher trug Dorle, diese treueste der wenigen ihm noch treuen Seelen, aus Solidarität ebenfalls Schwarz. Umso heller und greller wirkten ihre chlorgebleichten Wasserspringerinnenhaare. Sie drückte Willy mit beiden Händen zärtlich die Rechte, murmelte, es tue ihr unendlich leid, und rief, mit Blick auf sein übernächtigtes Antlitz: »Du mußt dich erbärmlich fühlen … hast nicht geschlafen, wie lange nicht? Ich wünschte nur, ich könnte dir helfen – sag mir bitte, wenn ich dir irgendwie helfen kann, ja?«
Willy, der Dorles Erwartungen gerecht werden wollte, gab sich Mühe, betrübt zu nicken. Dann erklärte er: »Sicher kannst du mir helfen – indem du gleich mit mir zu arbeiten anfängst. Arbeiten ist doch die beste Medizin! Also verbinde mich schnell mit Weitermann, na mach schon, mach!«
Dorle Perl düste ab, da rief Willy ihr hinterher: »Dorli, direkt mit Weitermann, nicht mit seinem Vorzimmer!« Er verspürte nicht die geringste Lust, jetzt mit Veronika zu reden. Sie mußte mehr oder minder direkt von Ruths Sturz an ihrem Fenster vorbei erfahren haben, dessen war er gewiß, und daß sie sich seitdem nicht bei ihm gemeldet hatte, das fand er ausgesprochen schäbig. Nein, er mochte nichts mehr von ihr wissen; jetzt, da sie sich getrennt hatten, fand er, im Grunde ihres Herzens sei diese Veronika immer schon ziemlich kalt gewesen.
Weitermann versprach, Mattis Manuskript umgehend ins Verlagslektorat weiterzureichen, und da Willy im Verlaufe ihrer Unterredung mehrmals betont hatte, um was für einen hochwertigen Text es sich handele, verabschiedete sich sein Kollege mit der Bemerkung, dann werde in nicht allzuferner Zukunft das Buch des Sohnes ja wohl im Betrieb des Vaters gedruckt werden, und das sei doch eine ungemein schöne Fügung.
Weiß der Himmel, daran hatte Willy noch gar nicht gedacht! Weitermanns Hinweis versetzte ihn in eine heitere Stimmung. Er fühlte sich in diesem Moment sogar frei, und er meinte auch zu wissen, worin der tiefere Grund dafür läge: Weil er der beiden Frauen, die ihm, jede einzeln, zuletzt nur
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