Brüder und Schwestern
Scherereien gemacht hatten, nun ledig war. Gewiß, kaum waren sie nicht mehr an seiner Seite, kaum beschwerten sie ihn nicht mehr, schon glückte ihm wieder dieses und jenes, schon wurde das Leben leichter, so war es doch, das ließ sich nicht bestreiten.
Er nahm sich der Papiere an, die sich in den vergangenen Tagen auf seinem Schreibtisch gestapelt hatten. Darunter befand sich eine Liste mit »Westenend«-Autoren, deren Bücher im nächsten Quartal gedruckt werden sollten. Willy überflog die Liste routinemäßig, da hakte sich sein Blick an einem Namen fest, den er hier nie und nimmer vermutet hätte: Kalus.
Auf einmal spürte Willy, wie fragil seine Hochstimmung gewesen war. Ein Luftballon, in den nur eine Nadel gepiekst zu werden brauchte, und schon war er kaputt.
»Das kann nicht wahr sein«, rief Willy, »das kann ja wohl nicht wahr sein!«
Erschrocken steckte Dorle Perl ihren Kopf durch die Tür. Ihre Lippen formten ein lautloses: »Was ist denn?«
Willy wedelte mit der Liste. »Wir sollen den Kalus drucken! Er ist immer noch verboten, und trotzdem sollen wir ihn drucken, für ›Westenend‹, und nur, weil es uns Penunzen bringt!«
Er hatte dieses »Penunzen« derart verächtlich ausgestoßen, daß auch Dorle Perl angewidert ihr Gesicht verzog. Auf weitere inhaltliche Äußerungen verzichtete sie; so wie sie sich – das war ja die Grundlage ihrer zutiefst harmonischen Verbindung mit Willy – überhaupt nie inhaltlich äußerte. Leise schloß sie wieder die Tür.
Willy in seinem Zorn langte nach dem Telefon, um Zeiller anzurufen, über den ihm, wie immer, die Liste von »Westenend« geschickt worden war. Der sie also abgesegnet hatte. Aber plötzlich verspürte er eine unendliche Müdigkeit, eine Ergebenheit in den unabänderlichen Lauf der Dinge. Er hielt den Hörer, preßte seine Lippen aufeinander, dachte: Wie oft ich solche Gespräche schon geführt habe. Und wie sinnlos sie alle gewesen sind. Der einzige Nutzen bestand doch darin, daß ich mir jedesmal ein wenig Luft verschafft habe. Und das – das genügte mir schon. Es war eine stillschweigende Übereinkunft, ein bißchen Wüten meinerseits, ein bißchen Weghören zeillerseits, und dann weiter, immer weiter auf der Parteilinie lang. Oh, ich weiß mittlerweile genau, wie der Hase läuft, ich kann schon wortwörtlich voraussagen, wie die nächste Debatte verlaufen wird, genauso, wie alle anderen zuvor. Siggi, werde ich beginnen, ich bin strikt dagegen, Kalus zu drucken, es ist doch ausgesprochen peinlich für uns, das zu tun, denn wir lassen uns vorführen. Er, Zeiller, wird sich dumm stellen erstmal: Wieso vorführen? Nun werde ich ihm erklären: Weil wir jemanden produzieren, den wir eigentlich ablehnen, woran wir uns aber gerade nicht erinnern, da wir nur die Kohle sehen, die er uns anschleppt. So? wird Zeiller mir da kommen, ablehnen sagst du? Kalus? das wundert mich aber, was Derartiges ausgerechnet von dir zu hören. Warst du nicht immer ein Verfechter von dem? Du müßtest doch froh und dankbar sein, ihn nochmal drucken zu dürfen, denn jetzt verbleibt die Auflage garantiert nicht im Schuppen, jetzt wird sie hundertprozentig ausgeliefert. Ha, aber nicht bei uns, werde nun wieder ich entgegnen, nicht bei uns, und das ist der springende Punkt, das ist sogar der Gipfel der Heuchelei, wenn wir den hier verbotenen Kalus allein der Kohle wegen für die anderen drucken, blanke Hurerei ist’s. Jetzt aber genug, wird er an dieser Stelle dazwischenfunken, auch du ziehst erklecklichen und unbedingt benötigten Gewinn aus dem Deal, schon vergessen? … Alles so wie immer … ah, so nutzlos das alles … und trotzdem muß ich wenigstens anrufen, um meinetwillen, denn nicht mehr anzurufen hieße, ganz die Segel zu streichen … ich werde also anrufen, mir richtig Luft verschaffen … richtig, pah, das ist doch alles …«
Dorle Perl war dann, als höre sie durch die Tür einen seltsamen Laut. Wie wenn weit entfernt ein Käuzchen riefe. Sie horchte atemlos, ein paar Sekunden. Und noch einmal so ein dickkehliger Ruf. Sie öffnete besorgt die Tür und sah, daß sich Willy mit beiden Händen an sein Herz gefaßt hatte und daß er, als befände er sich mitten im Ringkampf mit einem übermächtigen Gegner, seinen Oberkörper fürchterlich verwrang.
Es war ein Infarkt, und es war das ruhmlose Ende von Willy als Betriebsdirektor.
*
Die Attacke war so heftig gewesen, daß die Ärzte ihn einen Monat im Krankenhaus behielten. Als sie ihn schließlich
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