Brüder und Schwestern
entließen, kamen sie nicht umhin, ihn invalid zu schreiben.
Danach hielt Willy sich mehrere Wochen ausschließlich im Hause auf, zum Zwecke der Erholung, aber auch, weil er plötzlich Scheu hatte, sich unter Menschen zu begeben. Und diese Scheu wuchs, je länger er allein mit sich blieb. Er fühlte sich auf der ganzen Linie gescheitert und meinte, jeder werde es ihm anmerken und sogar mit dem Finger auf ihn zeigen. Bald sah er sich schon verstohlen um, wenn er nur zum Gartentor tapste, um die Zeitung aus dem Briefkasten zu holen, so weit war es gekommen mit ihm.
Eines Abends jedoch stand zu seiner Verwunderung Dietrich Kluge vor der Tür.
Kluge neigte verlegen den Kopf: »Ich war gerade schwimmen, in unserer Halle. Da bist du ja nicht mehr. Also dacht ich mir, gehst mal zu ihm hin, wenn er sich nicht mehr blicken läßt.«
»Ich darf doch noch nicht. Vielleicht später wieder«, entschuldigte sich Willy.
Er führte Dietrich Kluge in die Küche und holte, wenn auch zögernd, eine Flasche Nordhäuser aus dem Kühlschrank. Sie nahmen am Tisch mit der zerkratzten Linoleumplatte Platz.
Der Gast schaute sich um, und Willy sagte, eher feststellend als fragend: »Wie lange warst du nicht hier.«
Dietrich Kluge zeigte auf den Kühlschrank: »Das letzte Mal war ich hier zu einer Zeit, als es den noch nicht gab. Du hattest Eisblöcke im Keller.«
»Das war noch Rudi, der hat sie sich jedes Jahr rankarren lassen.«
»Aber du hast mit dem Handbohrer ein Loch reingetrieben, für die Flasche Korn, daran erinnere ich mich – darfst du jetzt überhaupt trinken, wenn du nicht schwimmen darfst?«
»Trinken ja, schwimmen nein«, behauptete Willy. Er goß sich den Schnaps in einem Zug die Kehle hinunter.
Dietrich Kluge lachte, tat es ihm gleich, wurde wieder ernst: »Wie geht’s dir denn?«
»Den Umständen entsprechend«, sagte Willy ausweichend.
»Und die Umstände, die sind nicht so gut, stimmt’s?«
Willy schwieg.
»Hab ich befürchtet«, murmelte Dietrich Kluge.
Willy schwieg nur um so beharrlicher.
»Gieß mir nochmal ein«, forderte Dietrich Kluge. Er leerte das Glas und stellte es geräuschvoll auf den Tisch. »Du magst dich mir gegenüber nicht äußern, das verstehe ich. Wahrscheinlich fragst du dich, was will der Kluge hier. Der hat doch schon lange nichts mehr von mir wissen wollen. Der hat doch sogar gesagt, der könne nichts mehr für mich tun.«
Willy räusperte sich.
»Ich konnte auch nichts für dich tun, Willy. Es verbot sich von selbst. Aber gleichzeitig hat mich das Verbot bedrückt. Letztlich beruhte es auf denselben Mechanismen, gegen die es sich richtete, das ist mir erst in den vergangenen Wochen klargeworden.«
Willy schaute ihn fragend an.
»Du hast dich wegen deiner Sache verbogen, ich wegen meiner. Um in der Sache hart zu bleiben, bin ich dir gegenüber hart gewesen – zu hart. Ich wußte es immer, aber ich hab’s verdrängt, tja, und jetzt ist das Kind in den Brunnen gefallen.«
»Nicht deine Schuld«, sagte Willy, und zur Bekräftigung: »Überhaupt nicht deine Schuld.«
Den Blick aufs Linoleum gerichtet, murmelte Dietrich Kluge: »Mir tut’s aber leid. Daß alles so endet, ist wirklich eine gottverdammte Scheiße …«
»Wenigstens einer«, erklärte Willy mit bitterem Lächeln.
Dietrich Kluge hob den Blick. »Nicht selbstmitleidig werden, Willy, bitte nicht. Außerdem denke ich nicht allein so. Es ist nämlich etwas Seltsames und vielleicht auch Natürliches geschehen. Jetzt, da du fort bist, sprechen die Leute viel besser über dich, als sie zuvor gesprochen haben, nicht alle, aber auch nicht wenige, ich krieg das ja mit. Deine früheren Rundgänge, die haben mittlerweile sogar einen legendären Ruf, na, ich will nicht übertreiben, sondern in aller Sachlichkeit nur sagen: Man erinnert sich ihrer. Hängt allerdings auch mit deinem Nachfolger zusammen. Denkst du, der läßt sich blicken bei uns unten? Nicht einmal bisher! Ein Phantom, das nur die Abteilungsleiter zu Gesicht bekommen, und was die über ihn erzählen … kurzum, der Vergleich, der nun unweigerlich angestellt wird, fällt zu deinen Gunsten aus. Ich dachte mir, vielleicht tut es dir gut, das zu erfahren.«
Willy sagte, das höre er »nun wahrlich nicht ungern«, und klang er hierbei noch recht gestelzt, so ließ er in der Folge alles Gekünstelte wie auch alles Selbstmitleidige fahren und erklärte Dietrich Kluge offen und ehrlich, wie sehr er sich verkrochen habe im Glauben, alle Welt sei gegen ihn, und er sei
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