Brüllbeton - Kriminalroman
zur Festwiese überschauen konnte, bemerkte, dass dort ein Wagen vorfuhr und Beton-Müller ausstieg. Er wurde vom Vereinsvorsitzenden empfangen, der ihn zu einem Ehrenplatz mitten in der ersten Reihe direkt an seiner Seite geleitete. Kroll saà so, dass er Müller im Halbprofil schräg von der Seite beobachten konnte.
*
Die Sonne war inzwischen längst untergegangen, und die Bühne lag gänzlich im Dunklen. Die Zuschauer spürten, dass sich dort etwas tat. Es herrschte erwartungsvolle Stille.
Unvermittelt ertönten merkwürdige, etwas schräge, aber nicht unangenehme Klänge. Exakt mit dem ersten Ton steuerte Kevin vier Scheinwerfer hoch. Jeder der vier Instrumentalisten saà in einem eigenen Lichtkegel, der ihn direkt von oben anleuchtete. Es sah aus, als bildeten sie vier Inseln.
Julia, die zwischen Kroll und Hopfinger saÃ, flüsterte: »Herrlich: Mozarts Dissonanzenquartett !« Kroll konnte mit dem Begriff nicht viel anfangen. Er wusste nicht, dass das 1785 vollendete Werk seinen Namen durch die klanglichen Reibungen in der Einleitung erhalten hatte, für die Zeitgenossen damals eine kühne, verstörende Musik.
Die vier Musiker trugen schwarz-weiÃe Konzertkleidung. Durch die von oben leuchtenden Scheinwerfer traten ihre Gesichter merkwürdig gespenstisch hervor. Grigorij an der ersten Geige spielte nahezu unbewegt. Wie eine Statue thronte er auf seinem Hocker und beeindruckte mit seinem feinnervigen Fingerspiel. Amelie, daneben mit der zweiten Geige, musizierte ganz anders. Ihr Körper wiegte sich leicht im Takt. Mit der Schnecke ihrer Geige gab sie die Einsätze, was eigentlich Grigorijs Aufgabe gewesen wäre. Wie er verzog auch sie während des Spiels keine Miene. Sie hielt die Augen geschlossen, als wolle sie ihren Mann in der ersten Reihe direkt vor sich nicht wahrhaben.
Im Gegensatz zu Chantal. Sie ging mit ihrer Bratsche ganz in der Musik auf. Ihr Kopf bewegte sich hin und her, sodass ihr die dunklen Haare ständig ins Gesicht fielen. Kroll entging nicht, dass sie ständig Blickkontakt mit Beton-Müller suchte, der sie schwärmerisch anhimmelte.
Ganz rechts hockte Mateo über seinem Cello. Auch er nahm wenig Kenntnis vom Publikum. Ab und zu warf er einen Seitenblick erst auf Amelie, dann auf ihren Mann. Sein Gesicht war bleich und machte einen sehr angespannten Eindruck.
Nach dem letzten Ton des ersten Satzes klatschte das Publikum, auch Hopfinger. Julia konnte sich nicht enthalten, ihm zuzuraunen: »Zwischen den Sätzen eines Werks klatscht man nicht, erst am Schluss!« Das machte Hopfinger aber nichts aus. Ihm waren die Verhaltensregeln egal, schlieÃlich hatte ihm die Musik gefallen. Vor allem die beiden charmanten Geigerinnen.
Für den zweiten Satz, Andante cantabile, hatte Kevin sich etwas Besonderes ausgedacht. Die Musiker saÃen über einem Lichtgraben, aus dem jetzt auf breiter Front warmes rotes Licht von unten auf sie strömte. Dadurch bildete das Ensemble erstmals eine Einheit, die sich auch im verschmelzenden Klang widerspiegelte. Für ein paar Minuten schienen alle Spannungen zwischen den Musikern verschwunden.
Im dritten Satz, dem Menuetto, kippte die Stimmung um. Die Musiker spielten die zum Tanz einladenden Rhythmen sehr eigenwillig und überzogen. Eine raffinierte Beleuchtung von Schwarzlichtscheinwerfern und blau flimmerndem Lichtgraben vermittelte den Eindruck eines skurrilen Jahrmarkts. Das Leben â ein Karussell.
Für den Schlusssatz, Allegro molto, griff Kevin auf die Anfangsstimmung zurück. Wieder erschienen die Musiker wie vier einzelne Inseln. Die Musik vermittelte Lebensfreude, aber im Gegensatz zum vorigen Satz, eine heitere, gelöste. Nun begannen auch Amelie und Mateo aufzublühen. Sie lächelten sich an, schienen innerlich zur Musik zu tanzen, als seien sie auf gleicher Wellenlänge. Keiner der beiden achtete jetzt mehr auf Beton-Müller. Der bemerkte den Flirt seiner Frau mit dem Cellisten sowieso nicht, zu sehr war er mit Chantal beschäftigt.
Nach der Reprise änderte sich die Musik, was allerdings zunächst kaum auffiel. Dazu hätten die Zuhörer das Werk Mozarts besser kennen müssen. Nur der Kritiker der Lübecker Nachrichten stutzte. SchlieÃlich gab es beim Kulturressort dieser Tageszeitung ja nur Experten. Aber auch er war sich seiner nicht ganz sicher. Hatte das Mozart wirklich so komponiert? Irgendwie klang das jetzt etwas anders,
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