Brunetti 01 - Venezianisches Finale
gestattete es ihm, dem Förmlichen, sich um die Entscheidung zu drücken, ob er sie mit lei oder tu anreden sollte.
»Früher oder später trifft man sich«, pflichtete sie ihm bei, vermied also mit gleichem Geschick die direkte Anrede.
Er entschied sich für das formelle lei und sagte: »Es tut mir leid, dass ich mich für Ihre Hilfe neulich abends gar nicht mehr bedankt habe.«
Sie zuckte die Achseln. »War meine Diagnose richtig?«
»Ja«, sagte er und überlegte, wie es ihr wohl gelungen war, es nicht in allen Zeitungen des Landes zu lesen. »Es war im Kaffee, wie Sie vermuteten.«
»Dachte ich mir. Aber ich muss gestehen, dass ich den Geruch nur erkannt habe, weil ich Agatha Christie gelesen hatte.«
»Ich auch. Es war das erste Mal, dass ich es im wirklichen Leben gerochen habe.« Beide ignorierten die Skurrilität seiner letzten Bemerkung.
Sie drückte ihre Zigarette in einer Topfpalme von der Größe eines Orangenbaums aus. »Wie kommt einer nur daran?«, fragte sie.
»Das wollte ich Sie gerade fragen, Dottoressa.«
Sie überlegte ein paar Sekunden, bevor sie mutmaßte: »In Apotheken, in Labors vielleicht, aber ich bin sicher, dass über das Zeug Buch geführt werden muss.«
»Ja und nein.«
Als Italienerin verstand sie sofort, was er meinte. »Es könnte also verschwinden und nie gemeldet oder gar vermisst werden?«
»Ja, ich glaube schon. Einer von meinen Leuten überprüft alle Apotheken der Stadt, aber wir könnten nie alle Fabriken in Marghera oder Mestre überprüfen.«
»Es wird zur Filmherstellung benutzt, nicht?«
»Ja und bei bestimmten petrochemischen Produkten.«
»Da hat Ihr Kollege ja in Marghera ein reiches Feld.«
»Allerdings«, gab er zu.
Er sah, dass ihr Glas leer war und fragte: »Möchten Sie noch etwas trinken?«
»Nein, danke. Ich glaube, für einen Abend habe ich genug vom Champagner des Conte getrunken.«
»Waren Sie schon öfter hier?«, fragte er mit unverhüllter Neugier.
»Ja, einige Male. Er lädt mich immer ein und wenn ich Zeit habe, komme ich auch.«
»Warum?« Die Frage entschlüpfte ihm, bevor er richtig nachgedacht hatte.
»Er ist mein Patient.«
»Sie sind seine Ärztin?« Brunetti war zu verblüfft, um seine Reaktion in eine angemessene Form zu kleiden.
Sie lachte. Und mehr noch, ihre Heiterkeit war völlig natürlich und ohne Groll. »Wenn er mein Patient ist, dann muss ich wohl seine Ärztin sein. Meine Praxis ist gleich auf der anderen Seite des Campo. Erst habe ich die Dienstboten betreut, aber vor etwa einem Jahr, als ich bei einem von ihnen einen Hausbesuch machte, traf ich den Conte und wir haben uns unterhalten.«
»Worüber denn?« Brunetti war erstaunt, dass der Conte zu etwas so Profanem wie Unterhaltung überhaupt in der Lage war, noch dazu mit jemand, der so wenig Aufhebens von sich machte wie diese junge Frau.
»Beim ersten Mal haben wir über den Hausangestellten gesprochen, der die Grippe hatte, aber als ich wieder kam, gerieten wir irgendwie in ein Gespräch über griechische Lyrik und das führte, wenn ich mich recht erinnere, zu einer Diskussion über griechische und römische Historiker. Der Conte ist besonders von Thukydides angetan. Da ich auf einem humanistischen Gymnasium war, konnte ich mitreden, ohne mich lächerlich zu machen und der Conte hatte wohl den Eindruck, dann müsse ich auch als Ärztin kompetent sein. Jetzt kommt er oft in meine Praxis und wir unterhalten uns über Thukydides und Strabo.« Sie lehnte sich an die Wand, die Beine über Kreuz. »Er ist nicht viel anders als meine anderen Patienten. Die meisten kommen und klagen über Wehwehchen, die sie nicht haben und Schmerzen, die sie nicht fühlen. Der Conte ist ein interessanterer Gesprächspartner, aber sonst besteht kaum ein großer Unterschied. Er ist einsam und alt, genau wie sie und er möchte mit jemandem reden.«
Brunetti war über diese Beurteilung seines Schwiegervaters so schockiert, dass er nichts zu sagen wusste. Einsam? Ein Mann, der mit einem Telefonat das Schweizer Bankgeheimnis lüften konnte? Ein Mann, der über das Testament eines anderen Bescheid wusste, bevor der noch unter der Erde war? So einsam, dass er zu seiner Hausärztin ging, um mit ihr über griechische Geschichtsschreiber zu reden?
»Manchmal spricht er auch von Ihnen«, sagte sie, »von Ihnen allen.«
»Ach ja?«
»Ja. Er hat Ihre Fotos in seiner Brieftasche. Er hat sie mir schon öfter gezeigt. Sie, Ihre Frau, die Kinder.«
»Warum erzählen Sie mir das,
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