Brunetti 02 - Endstation Venedig
sie so ansah, wußte er nicht, ob er mehr Kaffee holen oder sie künstlich beatmen sollte. »Brauchen die Kinder irgendwas?«
Sie schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf.
»Gibt es wirklich nichts, was du gern hättest?«
Es kostete sie übermenschliche Anstrengung, aber sie brachte die Worte heraus. »Verzieh dich für eine Stunde, dann bring mir eine Brioche und mehr Kaffee.« Damit warf sie sich auf den Bauch und war wieder eingeschlafen, bevor er noch das Zimmer verlassen hatte.
Er duschte lange und rasierte sich unter Strömen heißen Wassers, froh, daß er einmal nicht die Kommentare der anderen Haushaltsmitglieder fürchten mußte, die mit ihren diversen ökologischen Empfindlichkeiten stets bereit waren, alles anzuprangern, was sie als Vergeudung oder Umweltsünde betrachteten. Brunetti hatte den Verdacht, daß seine Familie sich immer gerade für solche Sachen begeisterte, die ihm unmittelbar das Leben unbequemer machten. Andere Männer brachten es ganz bestimmt fertig, Kinder zu haben, die sich um weit entfernte Dinge sorgten - den Regenwald, Atomtests, die Notlage der Kurden. Und ihm, einem städtischen Beamten, einem Mann, den die Presse sogar einmal gelobt hatte, verboten die eigenen Familienmitglieder, Mineralwasser in Plastikflaschen zu kaufen. Statt dessen mußte er Wasser in Glasflaschen kaufen und diese Flaschen dann vierundneunzig Stufen hinauf- und wieder hinunterschleppen. Und wenn er länger unter der Dusche blieb, als ein Durchschnittsmensch brauchte, um sich die Hände zu waschen, mußte er sich endlose Kritik über die Gedankenlosigkeit des Westens und seinen verschwenderischen Umgang mit den globalen Ressourcen anhören. In seiner Kindheit war Verschwendung verpönt gewesen, weil sie arm waren; heute war sie verpönt, weil sie reich waren. An diesem Punkt klappte er den Katalog seiner Kümmernisse zu und beendete seine Duschorgie.
Als er zwanzig Minuten später das Haus verließ, durchflutete ihn ein grenzenloses Wohlgefühl. Obwohl der Morgen kühl war, würde es ein warmer Tag werden, einer dieser herrlichen Sonnentage, mit denen die Stadt im Herbst gesegnet war. Die Luft war so trocken, daß man fast nicht glauben konnte, daß die Stadt auf Wasser gebaut war, obwohl ein Blick nach rechts, während er an verschiedenen Seitengassen vorbei Richtung Rialto ging, dies ausreichend belegte.
An der nächsten Kreuzung wandte er sich nach links zum Fischmarkt, der heute, am Sonntag, geschlossen war, aber dennoch den leichten Geruch nach dem Fisch verbreitete, der dort seit Jahrhunderten verkauft wurde. Er ging über eine Brücke, wandte sich nach links und trat in eine Pasticceria. Dort kaufte er ein Dutzend Gebäckstücke. Auch wenn sie die zum Frühstück nicht alle aufaßen, würde Chiara sie im Lauf des Tages bestimmt wegputzen. Wahrscheinlich schon vormittags. Das rechteckige Paket auf der Hand balancierend, ging er wieder Richtung Rialto und dann nach rechts auf San Polo zu. Am Campo San Aponal hielt er beim Zeitungskiosk an und kaufte zwei Zeitungen, den Corriere und II Manifesto, von denen er annahm, daß Paola sie heute lesen wollte. Als er zu Hause ankam, schienen die Treppenstufen zu seiner Wohnung fast nicht dazusein.
Er fand Paola in der Küche, wo der Kaffee gerade fertig war. Vom Ende des Flurs hörte er Raffaele durch die Badezimmertür seiner Schwester zurufen: »Komm schon, beeil dich. Du bist schon den ganzen Morgen da drin.« Aha, die Wasserschutzpolizei war wieder in Aktion.
Er stellte sein Paket auf den Tisch und schlug das weiße Papier zurück. Der Berg von Gebäckstücken glänzte von geschmolzenem Zucker, und etwas Puderzucker rieselte auf das dunkle Holz des Tisches. Er nahm sich ein Stück Apfelstrudel und biß hinein.
»Wo hast du das her?« fragte Paola, während sie Kaffee eingoß.
»Aus der Pasticceria bei Carampane.«
»So weit bist du gelaufen?«
»Es ist ein herrlicher Tag, Paola. Laß uns nach dem Frühstück einen Spaziergang machen. Wir könnten zum Mittagessen nach Burano fahren. Ach ja, machen wir das. Der Tag ist wie geschaffen für einen Ausflug.« Er dachte an die lange Bootsfahrt zur Insel hinaus und wie die Sonne das Flickenmuster der knallbunten Hauser beleuchten würde, auf die sie zufuhren, und seine Stimmung hob sich noch mehr.
»Gute Idee«, stimmte sie zu. »Und die Kinder?«
»Frag sie. Chiara will bestimmt mit.«
»Gut. Raffaele vielleicht auch.«
Vielleicht.
Paola schob ihm II Manifesto zu und nahm sich den Corriere. Nichts
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