Brunetti 02 - Endstation Venedig
würde geschehen, keine Anstalten zur Würdigung dieses herrlichen Tages getroffen werden, bevor sie mindestens zwei weitere Tassen Kaffee getrunken und die Zeitungen gelesen hatte. Er nahm seine Zeitung in die eine, seine Kaffeetasse in die andere Hand und ging durchs Wohnzimmer auf die Dachterrasse. Er ließ alles draußen und ging ins Wohnzimmer zurück, um sich einen Stuhl zu holen, den er genau in der richtigen Entfernung vom Geländer aufstellte. Er setzte sich, kippte mit dem Stuhl leicht nach hinten und legte die Füße aufs Geländer. Dann griff er sich die Zeitung und begann zu lesen.
Kirchenglocken läuteten, die Sonne schien warm auf sein Gesicht, und Brunetti erlebte einen Augenblick absoluten Friedens.
Paola sprach ihn von der Terrassentür aus an: »Guido, wie hieß diese Ärztin noch?«
»Die hübsche?« fragte er, ohne aufzusehen und ohne recht auf ihren Ton zu achten.
»Guido, wie hieß sie?«
Er ließ seine Zeitung sinken und drehte sich zu ihr um. Als er ihr Gesicht sah, kippte er den Stuhl nach vorn und nahm die Füße vom Geländer. »Peters.« Sie schloß einen Moment die Augen, bevor sie ihm den Corriere reichte, der in der Mitte aufgeschlagen war.
AMERIKANISCHE ARZTIN STIRBT AN ÜBERDOSIS, las er. Der Artikel war kurz und rasch überflogen. Die Leiche von Captain Terry Peters, Kinderärztin bei der US-Army, war am späten Samstagnachmittag in ihrer Wohnung in Due Ville in der Provinz Vicenza aufgefunden worden. Dr. Peters, die im Armeekrankenhaus in Caserme Ederle arbeitete, war von einem Freund gefunden worden, der herausfinden wollte, warum sie am Morgen nicht zur Arbeit erschienen war. Eine benutzte Spritze hatte neben der Leiche gelegen, und in der Wohnung fanden sich weitere Anzeichen von Drogengebrauch sowie Hinweise, daß die Ärztin getrunken hatte. Die Carabinieri und die amerikanische Militärpolizei führten die Untersuchung.
Er las den Artikel noch einmal, dann noch einmal. Er blätterte seine eigene Zeitung durch, aber Il Manifesto erwähnte den Vorfall nicht.
»Ist das möglich, Guido?«
Er schüttelte den Kopf. Nein, eine Überdosis war unmöglich, aber sie war tot; das bewies der Artikel.
»Was willst du unternehmen?«
Er sah hinüber zum Glockenturm von San Polo, der nächstliegenden Kirche. Er hatte keine Ahnung. Patta würde keinen Zusammenhang zwischen den Fällen sehen, oder falls ein solcher bestand, dann höchstens als Unfall, im schlimmsten Fall als Selbstmord. Da nur Brunetti wußte, daß sie die Postkarte aus Kairo hatte verschwinden lassen, und nur er ihre Reaktion auf die Leiche ihres Geliebten gesehen hatte, gab es zwischen den beiden keine Verbindung, außer daß sie Kollegen gewesen waren, und das war sicher kein Grund für einen Selbstmord. Drogen und Alkohol und eine alleinstehende Frau; das reichte aus, um die Reaktion der Presse vorhersagen zu können - es sei denn - es sei denn, ein ähnlicher Anruf, wie ihn Patta bekommen haben mußte, ging bei den Zeitungsredaktionen ein.
In diesem Fall wäre es mit der Geschichte schnell aus und vorbei, wie mit so vielen Geschichten. Wie mit Dr. Peters.
»Ich weiß es nicht«, beantwortete er schließlich Paolas Frage. »Patta hat mir verboten, noch einmal nach Vicenza zu fahren.«
»Aber dadurch ändert sich doch sicher alles.«
»Nicht für Patta. Es war eine Überdosis. Die Polizei in Vicenza wird sich damit befassen. Sie werden eine Autopsie veranlassen, und dann schicken sie die Leiche nach Amerika zurück.«
»Genau wie den anderen«, sagte Paola, die damit aussprach, was er dachte. »Warum beide umbringen?«
Brunetti schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung.« Aber er hatte eine. Sie war zum Schweigen gebracht worden. Ihre Bemerkung, daß sie nicht scharf auf Drogen sei, war keine Lüge gewesen: der Gedanke an eine Überdosis war absurd. Sie war umgebracht worden, weil sie irgend etwas über Foster wußte, etwas, das sie vor der Leiche ihres Liebhabers hatte erschrecken und quer durchs Zimmer torkeln lassen. Drogentod. Er überlegte, ob ihm damit eine Botschaft übermittelt werden sollte, verwarf den Gedanken aber als Größenwahn. Ihr Mörder hatte nicht die Zeit gehabt, einen Unfall zu arrangieren, und ein zweiter Mord wäre allzu auffällig gewesen, ein Selbstmord unerklärbar und daher verdächtig. Eine Überdosis war also die perfekte Lösung: Sie hatte es sich selbst angetan, man mußte nirgends anknüpfen; wieder eine Sackgasse. Und Brunetti wußte nicht einmal, ob sie es gewesen war,
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