Brunetti 02 - Endstation Venedig
auf jeder Fläche; darauf standen reihenweise Familienfotos, und auf allen war Peppino zu sehen: Peppino als kleiner Seemann, Peppino im strahlenden Weiß seiner ersten Kommunion, Peppino auf dem Rücken eines Esels, grinsend trotz seiner Angst. Auf allen Bildern waren die übergroßen Ohren des Kindes sichtbar, mit denen er fast wie eine Karikatur wirkte. In einer Ecke befand sich so etwas Ahnliches wie ein Altar für ihren verstorbenen Mann: ihr Hochzeitsbild, auf dem Brunetti ihre langst verblaßte Schönheit sah; in die Ecke gelehnt der Spazierstock ihres Mannes, dessen elfenbeinerner Knauf selbst in diesem trüben Licht glänzte; seine lupara, die tödlichen kurzen Läufe mehr als zehn Jahre nach seinem Tod noch poliert und geölt, als hätte selbst der Tod ihn nicht von der Notwendigkeit befreit, dem sizilianischen Männerklischee nachzukommen, das ihm gebot, jedem Angriff auf seine Ehre oder seine Familie mit dem Gewehr entgegenzutreten.
Brunetti sah weiter zu, wie sie, scheinbar ohne ihn zu beachten, zuerst ein Tablett und Teller herunterholte, dann aus einem anderen Schränkchen eine Blechdose, deren Deckel sie mit einem Messer abhob. Daraus schichtete sie Massen von Gebäck auf den einen Teller. Aus einer weiteren Dose lud sie bunt umwickelte Pralinen auf einen anderen Teller. Der Kaffee kochte auf, und sie griff rasch zu und drehte das Kännchen mit einer flinken Bewegung um, trug dann das Tablett zu dem großen Tisch, der fast eine ganze Seite des Zimmers einnahm. Wie ein Kartenspieler verteilte sie Teller und Unterteller, Löffel und Tassen, die sie vorsichtig auf die Tischdecke aus Plastik setzte. Dann holte sie den Kaffee. Als alles fertig war, wandte sie sich ihm zu und winkte ihn zu Tisch.
Brunetti mußte sich aus dem tiefen Sessel hochstemmen. Als er an den Tisch kam, zog sie einen Stuhl für ihn darunter hervor, und als er Platz genommen hatte, setzte sie sich ihm gegenüber. Die Capodimonte-Untertassen hatten beide feine Risse, die vom Rand nach innen verliefen wie die Runzeln auf den papierenen Wangen seiner Großmutter, die ihm noch gut in Erinnerung waren. Die Löffel glänzten, und neben seinem Teller lag eine Leinenserviette, gebügelt und zu einem akkuraten Rechteck gefaltet.
Signora Ruffolo goß zwei Tassen Kaffee ein, stellte die eine vor Brunetti hin und reichte ihm dann die silberne Zuckerdose. Mit einer silbernen Gebäckzange legte sie ihm sechs Stücke Gebäck, jedes so groß wie eine Aprikose, auf den Teller, anschließend mit demselben Werkzeug vier der folienverpackten Pralinen.
Er süßte seinen Kaffee und nippte daran. »Das ist der beste Kaffee in ganz Venedig, Signora. Wollen Sie mir das Geheimnis immer noch nicht verraten?«
Sie lächelte, und Brunetti sah, daß sie schon wieder einen Zahn verloren hatte, diesmal den rechten oberen Vorderzahn. Er biß in ein Gebäckstück und fühlte, wie der Zucker in seinen Mund geschwemmt wurde. Gemahlene Mandeln, Zucker, feinste Teigmasse und noch mehr Zucker. Im nächsten Stück waren gemahlene Pistazien. Im dritten Schokolade, und das vierte war mit Creme gefüllt. Er biß in das fünfte und legte den Rest wieder auf seinen Teller.
»Essen Sie, Dottore. Sie sind zu dünn. Essen Sie. Zucker gibt Energie. Und er ist gut fürs Blut.« Die Substantive übermittelten ihm die Botschaft.
»Das ist köstlich, Signora Concetta. Aber ich habe gerade zu Mittag gegessen, und wenn ich zuviel davon esse, schaffe ich mein Abendessen nicht, und meine Frau wird böse.«
Sie nickte. Sie hatte Verständnis dafür, wenn Ehefrauen böse wurden.
Er trank seinen Kaffee aus und stellte die Tasse hin. Keine drei Sekunden später stand sie auf, ging durchs Zimmer und kam mit einer geschliffenen Karaffe und zwei Gläsern, nicht großer als Oliven, zurück. »Marsala. Aus meiner Heimat«, sagte sie und goß ihm einen Fingerhut-voll ein. Er nahm ihr das Glas ab, wartete, während sie ein paar Tropfen in ihr eigenes goß, stieß mit ihr an und nippte. Es schmeckte nach Sonne und Meer, und nach Liedern von Liebe und Tod.
Er setzte sein Glas ab, sah sie über den Tisch hinweg an und sagte: »Signora Concetta, ich glaube, Sie wissen, warum ich hier bin.«
Sie nickte. »Peppino?«
»Ja, Signora.«
Sie hielt die Hand hoch, die Innenfläche ihm zugekehrt, als wollte sie seine Worte abwehren oder sich vor dem malocchio schützen.
»Signora, ich glaube, Peppino ist in etwas ziemlich Schlimmes verwickelt.«
»Aber dieses Mal...« fing sie an, bevor ihr einfiel,
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