Brunetti 02 - Endstation Venedig
wieder in die Hände fallen würde.
Er rief Ambrogiani nicht an, und bei seinen Besprechungen mit Patta erwähnte er die Morde nicht, weder den einen, der so rasch von der Presse vergessen, noch den anderen, der niemals Mord genannt worden war; auch den Stützpunkt in Vicenza nicht. Mit einer Regelmäßigkeit, die man schon fast Besessenheit nennen konnte, spielte er seine Begegnungen mit der jungen Ärztin durch und rief sich Einzelheiten ins Gedächtnis: Wie sie aus dem Boot sprang und ihm dabei die Hand reichte; wie sie sich im Leichenschauhaus aufs Waschbecken stützte und der Schock ihren Körper schüttelte; wie sie lächelte, als sie ihm erzahlte, in sechs Monaten würde sie ihr Leben beginnen.
Es lag in der Natur der Polizeiarbeit, daß er nie die Opfer kannte, deren Tod er zu untersuchen hatte. Wenn er auch noch so genau über sie Bescheid wußte, ihre Arbeit, ihre Bettgeschichten und ihren Tod, hatte er doch keines von ihnen in diesem Leben gekannt, darum empfand er eine besondere Verbindung zu Dr. Peters und wegen dieser Verbindung auch eine besondere Verantwortung, ihren Mörder zu finden.
Als er am Donnerstagmorgen in die Questura kam, erkundigte er sich bei Vianello und Rossi, aber es gab immer noch keine Spur von Ruffolo. Viscardi war nach Mailand zurückgefahren, nachdem er eine schriftliche Beschreibung der beiden Männer, einer sehr groß und einer mit Bart, sowohl der Versicherung als auch der Polizei gegeben hatte. Anscheinend waren sie gewaltsam in den Palazzo eingedrungen, denn die Schlösser an der Seitentür waren geknackt und das Vorhängeschloß an einem Metallgitter durchgefeilt. Obwohl Brunetti nicht selbst mit Viscardi gesprochen hatte, war er nach seiner Unterhaltung mit Vianello und dem Telefonat mit Fosco überzeugt, daß da kein Diebstahl stattgefunden hatte oder, besser gesagt, höchstens am Geld der Versicherungsgesellschaft.
Kurz nach zehn verteilte eine Sekretärin die Post in den einzelnen Büros und legte Brunetti einige Briefe und einen großen Umschlag auf den Schreibtisch.
Die Briefe waren das übliche: Einladungen zu Konferenzen, Versuche, ihm spezielle Lebensversicherungen zu verkaufen, Antworten auf seine Anfragen bei verschiedenen Polizeirevieren in anderen Landesteilen. Nachdem er alles gelesen hatte, nahm er den großen Umschlag in Augenschein. Über die obere Hälfte lief ein schmales Band von Briefmarken, mindestens zwanzig. Sie sahen alle gleich aus, mit einer kleinen amerikanischen Flagge und der Wertbezeichnung neunundzwanzig Cents darauf. Der Umschlag war namentlich an ihn adressiert, aber darunter stand nur: »Questura, Venice, Italy«. Ihm fiel niemand in Amerika ein, der ihm schreiben würde. Ein Absender stand nicht darauf.
Er schlitzte den Umschlag auf, griff hinein und zog eine Zeitschrift heraus. Beim Blick auf den Titel erkannte er die medizinische Zeitschrift, die Dr. Peters ihm aus der Hand gerissen hatte, als sie ihn in ihrem Sprechzimmer überraschte. Er blätterte darin herum, hielt bei den grotesken Fotos inne und blätterte weiter. Ganz hinten fand er drei Blatt Papier, offensichtlich Fotokopien, zwischen den Seiten. Er nahm sie heraus und legte sie vor sich auf den Schreibtisch.
Oben las er: Medicai Report, darunter waren Spalten für Namen, Alter und Rang des Patienten. Hier stand der Name Daniel Kayman, dessen Geburtsjahr mit 1984 angegeben war. Danach seine medizinische Vorgeschichte, die mit Masern 1989 begann, es folgten etliche blutige Nasen im Winter 1990, ein gebrochener Finger 1991, und auf den letzen beiden Seiten eine Reihe von Konsultationen wegen eines Hautausschlags am linken Arm, der zwei Monate zuvor begonnen hatte. Während Brunetti las, breitete dieser Ausschlag sich immer weiter aus und stürzte die drei behandelnden Ärzte in immer tiefere Verwirrung.
Am achten Juli war der Junge zum ersten Mal von Dr. Peters begutachtet worden. Ihre ordentliche, schräge Handschrift sagte, daß der Hautausschlag »unbekannter Herkunft« war, sich aber gezeigt hatte, nachdem der Junge von einem Picknick mit seinen Eltern zurückkam. Er bedeckte die Innenseite seines Arms vom Handgelenk bis zum Ellbogen, war dunkel purpurfarben, juckte aber nicht. Die verordnete Therapie war eine medizinische Hautcreme.
Drei Tage später war der Junge wieder da, der Ausschlag schlimmer. Er sonderte jetzt eine gelbe Flüssigkeit ab und tat weh, zudem hatte der Junge hohes Fieber. Dr. Peters riet, einen Dermatologen im örtlichen Krankenhaus in Vicenza zu
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