Brunetti 02 - Endstation Venedig
gefunden zu haben. »Guido.«
Als er auflegte, wünschte Brunetti sich plötzlich, in Amerika zu sein. Eine der großen Entdeckungen bei seinem Aufenthalt dort war das System der öffentlichen Bibliotheken gewesen; da konnte man einfach hingehen und Fragen stellen, jedes Buch lesen, das man wollte, und problemlos ein Zeitschriftenverzeichnis einsehen. Hier in Italien mußte man das Buch entweder kaufen, oder man konnte es in einer Universitätsbibliothek ausleihen, aber selbst da war schwer heranzukommen ohne die richtigen Karten, Genehmigungen oder Ausweise. Wie sollte er also etwas über PCB in Erfahrung bringen? Was sie waren und was sie dem menschlichen Körper antun konnten?
Er sah auf seine Uhr. Wenn er sich beeilte, schaffte er es noch rechtzeitig in die Buchhandlung beim Campo San Luca; dort würde er wahrscheinlich die Bücher finden, die er brauchte.
Er kam eine Viertelstunde vor Ladenschluß an und erklärte dem Verkaufer, was er suchte. Er erfuhr, daß es zwei grundlegende Werke über toxische Substanzen und Umweltverschmutzung gab, wobei das eine mehr mit Emissionen zu tun hatte, die direkt in die Atmosphäre gingen. Dann gab es noch ein drittes, eine Art allgemeine Einführung in die Chemie für Laien. Nachdem er in allen herumgeblättert hatte, kaufte Brunetti das erste und das dritte und nahm noch ein schrill aufgemachtes Bändchen dazu, das von der Partei der Grünen herausgegeben worden war und den Titel »Globaler Selbstmord« trug. Er hoffte, das Thema würde etwas seriöser behandelt, als Titel und Umschlag versprachen.
Danach kehrte er in einem Restaurant ein und aß richtig zu Mittag, ging ins Büro zurück und schlug das erste Buch auf. Drei Stunden später erkannte er mit wachsendem Entsetzen das Ausmaß der Probleme, die der Mensch des Industriezeitalters für sich und, schlimmer noch, für die geschaffen hatte, die ihm auf diesem Planeten nachfolgen sollten.
Diese Chemikalien waren offenbar bei vielen Prozessen wichtig, von denen der moderne Mensch abhing, unter anderem als Kühlmittel für Gefrierschränke und Klimaanlagen. Sie wurden auch dem Öl für Transformatoren zugesetzt, aber die PCBs waren nur eine Blume in dem tödlichen Strauß, den die Industrie der Menschheit gebunden hatte. Er las die Namen der Chemikalien mit Mühe, die Formeln mit Unverständnis. Was blieb, waren die Zahlen für die Halbwertzeiten dieser Substanzen, die Zeit offenbar, die eine Substanz brauchte, um noch halb so tödlich zu sein wie zum Zeitpunkt der Messung. In einigen Fällen waren das Hunderte von Jahren, in anderen Tausende. Und diese Substanzen wurden von den Industrienationen in riesigen Mengen produziert, während die Erde in die Zukunft raste.
Jahrzehntelang hatte die Dritte Welt als Müllkippe der Industrieländer gedient und ihnen ganze Schiffsladungen von Giftmüll abgenommen, die im Austausch gegen momentanen Wohlstand über ihre Pampas, Savannen und Plateaus verteilt wurden, ohne einen Gedanken an den Preis zu verschwenden, den künftige Generationen zu zahlen hätten. Und nun, da einige Länder der Dritten Welt sich nicht mehr als Müllhalden für die Erste zur Verfügung stellen wollten, waren die Industrienationen gezwungen, Entsorgungssysteme zu entwickeln, viele davon ruinös teuer. Als Folge davon fuhren ganze Karawanen von Geisterlastzügen mit gefälschten Papieren auf der italienischen Halbinsel auf und ab und suchten und fanden Plätze, wo sie ihre tödlichen Ladungen loswerden konnten. Oder Schiffe liefen von Genua oder Tarent aus, die Laderäume voller Fässer mit Lösungsmitteln und anderen Chemikalien und weiß der Himmel was sonst noch, und wenn sie in ihrem Bestimmungshafen ankamen, waren die Fässer nicht mehr an Bord, als ob der Gott, der ihren Inhalt kannte, sich entschlossen hätte, sie zu sich zu nehmen. Gelegentlich wurden sie in Nordafrika oder Kalabrien an Land gespült, aber natürlich hatte niemand eine Ahnung, woher sie kamen, noch merkte jemand, wenn sie wieder den Wellen anvertraut wurden, die sie an die Strande gespült hatten.
Der Ton des Grünen-Buches verdroß Brunetti; die Tatsachen erschreckten ihn. Sie nannten die Transporteure und die Firmen, die sie bezahlten, mit Namen, und schlimmer noch, sie zeigten Fotos von den illegalen Müllkippen. Der Ton war anklagend, und schuld hatte nach Ansicht der Autoren die gesamte italienische Regierung, Hand in Hand mit den Firmen, die diese Produkte herstellten und nicht von Gesetzes wegen für die Entsorgung
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