Brunetti 02 - Endstation Venedig
verantwortlich gemacht wurden. Das letzte Kapitel befaßte sich mit Vietnam und den inzwischen sichtbar werdenden genetischen Folgen all der Tonnen von Dioxin, die während des Krieges mit den Vereinigten Staaten über dem Land abgeworfen worden waren. Die Beschreibungen von Mißbildungen bei Neugeborenen, der zunehmenden Fehlgeburten und der Verseuchung von Fischen, Wasser und Boden waren klar und selbst dann noch erschütternd, wenn man die unvermeidlichen Übertreibungen der Autoren berücksichtigte. Und dieselben Chemikalien, so behaupteten die Autoren, wurden überall in Italien abgeladen, als wäre es das Normalste von der Welt.
Als Brunetti zu Ende gelesen hatte, merkte er, daß er sich hatte manipulieren lassen, daß die Argumentation in allen diesen Büchern schwere Mängel aufwies, daß sie Verbindungen unterstellten, wo keine aufgezeigt werden konnten, und Schuld zuwiesen, wo die Tatsachen dafür nicht ausreichten. Er sah aber auch, daß eine Grundannahme in allen Büchern wahrscheinlich stimmte: daß derart weitverbreitete und unbestrafte Gesetzesverstöße - und die Weigerung der Regierung, schärfere Gesetze zu formulieren - auf eine enge Beziehung zwischen den Tätern und der Regierung hinwiesen, deren Aufgabe es gewesen wäre, sie zu verhindern und zu bestrafen. Waren die beiden vom Stützpunkt in ihrer Naivität in diesen Strudel geraten, hatte ein Kind mit einem Ausschlag am Arm sie da hineingezogen?
18
Ambrogiani rief Brunetti gegen fünf zurück, um ihm zu sagen, daß der Vater des Jungen, ein Sergeant, der in der Beschaffungsstelle arbeitete, offenbar noch in Vicenza sei; zumindest war sein Auto noch da, dessen Zulassung erst vor zwei Wochen erneuert worden war. Und da diese Prozedur eine Unterschrift des Besitzers verlangte, konnte man daraus schließen, daß er tatsächlich noch in Vicenza war.
»Wo wohnt er?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Ambrogiani. »Im Verzeichnis steht nur seine Postanschrift, ein Postfach hier auf dem Stützpunkt, keine Wohnadresse.«
»Kannst du die in Erfahrung bringen?«
»Nicht ohne daß mein Interesse an ihm bekannt wird.«
»Nein, das möchte ich nicht«, sagte Brunetti. »Aber ich würde gern außerhalb des Stützpunkts mit ihm reden.«
»Gib mir einen Tag Zeit. Ich schicke einen meiner Leute in sein Büro, um festzustellen, wie er aussieht. Glücklicherweise tragen sie ja alle diese Namensschilder an ihren Uniformen. Dann sorge ich dafür, daß ihm jemand folgt. Das dürfte nicht allzu schwierig sein. Ich rufe dich morgen an, dann kannst du überlegen, wie man ein Treffen arrangieren könnte. Die meisten wohnen außerhalb des Stützpunkts. Wenn er Kinder hat, dann sowieso. Ich rufe dich morgen wieder an und lasse dich wissen, was ich erreicht habe, ja?«
Brunetti sah keinen besseren Weg. Er merkte, daß er am liebsten sofort in einen Zug nach Vicenza steigen und mit dem Vater des Jungen sprechen würde, um das Puzzle zusammensetzen zu können, wie das Picknick und der Hautausschlag und die Notiz am Rand eines Krankenblattes zum Mord an diesen beiden jungen Leuten geführt hatten. Einige der Puzzleteile hatte er schon, der Vater des Jungen mußte ein weiteres haben; früher oder später würde er dann, indem er die einzelnen Teile zusammenfügte, sie betrachtete und auf neue Plätze legte, das Muster erkennen, das ihm jetzt noch verborgen war.
Da er keine andere Lösung sah, mußte er wohl oder übel warten, bis Ambrogiani ihn am nächsten Tag anrief. Er schlug das Buch der Grünen wieder auf, nahm ein Blatt Papier aus seinem Schreibtisch und notierte sich alle Firmen, die im Verdacht standen, illegal Giftmüll zu transportieren, ebenso diejenigen, gegen die schon Anzeigen wegen illegalen Mülltransports liefen. Die meisten hatten ihren Standort im Norden, vorwiegend in der Lombardei, dem industriellen Herzen des Landes.
Er sah im Impressum nach und stellte fest, daß die Publikation erst ein Jahr alt war, die Liste also auf dem neuesten Stand. Er drehte das Buch um und fand auf der Rückseite eine nach Provinzen geordnete Karte mit allen Stellen, wo illegale Müllkippen gefunden worden waren. Die Provinzen Vicenza und Verona waren mit vielen Punkten versehen, besonders nördlich dieser beiden Städte, bis hin zu den Ausläufern der Alpen.
Er klappte das Buch zu und legte seine zusammengefaltete Liste hinein. Er konnte nichts weiter tun, bis er mit dem Vater des Jungen gesprochen hatte, aber er brannte immer noch darauf, gleich hinzufahren, auch
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