Brunetti 02 - Endstation Venedig
haben sie ihn umgebracht.«
»Warum haben sie ihn nicht einfach laufenlassen?« überlegte Brunetti laut, und weil Ambrogiani es nicht erwähnt hatte, erkundigte er sich noch: »Wie alt war er denn?«
»Zwölf.« Es folgte eine lange Pause, dann beantwortete Ambrogiani die erste Frage. »Laufenlassen wäre schlecht fürs Geschäft gewesen. Andere hätten daraus womöglich geschlossen, daß es eine Chance gibt, wenn wir ihnen erst mal dicht genug auf den Fersen sind. Indem sie das Kind töteten, machten sie klar: Wir meinen es ernst, und wenn ihr nicht zahlt, dann töten wir.«
Ambrogiani öffnete den Wein und goß etwas davon in die Plastikbecher. Sie aßen jeder ein Sandwich, und weil sie nichts weiter zu tun hatten, noch eins. Die ganze Zeit über hatte Brunetti bewußt nicht auf die Uhr gesehen, weil er hoffte, die Zeit würde schneller vergehen, wenn er länger damit wartete. Schließlich konnte er nicht mehr widerstehen und sah doch nach. Mittag. Die Stunden dehnten sich. Er kurbelte das Fenster herunter und blickte lange auf die Berge. Als er sich einmal umdrehte, schlief Ambrogiani, den Kopf nach links ans Fenster gelehnt.
Brunetti beobachtete den Verkehr auf der steilen Straße. Alle Autos sahen für ihn mehr oder weniger gleich aus, bis auf die Farbe oder, wenn sie langsam genug fuhren, die Nummernschilder.
Nach einer Stunde kamen immer weniger; Mittagszeit. Kurz nachdem er das festgestellt hatte, hörte er das scharfe Zischen der Luftdruckbremsen eines Lastwagens und sah einen großen Laster mit rotem Streifen an der Seite den Berg hinunterfahren.
Er berührte Ambrogiani am Arm. Der Carabiniere war sofort wach und griff nach dem Zündschlüssel. Sie fuhren auf die Straße und folgten dem Lastwagen. Etwa zwei Kilometer von ihrem Parkplatz entfernt bog dieser nach rechts ab und verschwand eine schmale unbefestigte Straße hinunter. Sie fuhren an der Abzweigung vorbei und weiter bergab, aber Brunetti sah, wie Ambrogiani ans Armaturenbrett faßte und den Tageskilometerzähler auf Null stellte. Nach einem Kilometer fuhr er an die Seite und stellte den Motor ab.
»Was war das für ein Nummernschild?«
»Vicenza«, sagte Brunetti und holte sein Notizbuch heraus, um sich die Nummer zu notieren, solange er sie noch frisch im Gedächtnis hatte. »Was meinst du?«
»Wir bleiben hier, bis wir ihn zurückkommen sehen, oder wir warten eine halbe Stunde und sehen dann mal nach.«
Nach einer halben Stunde war der Laster noch nicht wieder zurückgekommen, und Ambrogiani fuhr wieder bis zu der Einmündung, an der er vorhin abgebogen war. Sie fuhren daran vorbei und noch ein Stückchen weiter, dann hielten sie rechts an, und Ambrogiani parkte den Wagen zwischen zwei Markierungspfosten.
Als sie ausgestiegen waren, ging Ambrogiani zum Kofferraum. Er öffnete ihn und griff hinein. Neben dem Reservereifen steckte eine großkalibrige Pistole, die er herausnahm und in seinen Hosenbund steckte. »Hast du auch eine?« fragte er.
Brunetti verneinte. »Ich habe sie heute nicht mitgenommen.«
»Ich habe noch eine zweite hier. Willst du sie?«
Brunetti schüttelte den Kopf.
Ambrogiani schlug den Kofferraumdeckel zu, und sie überquerten zusammen die Straße und gingen auf den Weg, der zu den Bergen führte.
Lastwagen hatten zwei tiefe Rinnen in den Weg gegraben; mit den ersten schweren Regenfallen würde sich alles in eine Schlammwüste verwandeln und unpassierbar sein für Laster von der Größe, wie sie gerade einen gesehen hatten. Nach ein paar hundert Metern wurde der Weg etwas breiter und schlängelte sich an einem Fluß entlang, der vom See herunterkam. Bald danach verließ er den Fluß nach links, um nun einer langen Baumreihe zu folgen. Weiter vorn führte der Weg in eine scharfe Linkskurve und einen steilen Hang hinauf, wo er zu enden schien.
Unvermittelt trat Ambrogiani hinter einen Baum und zog Brunetti mit sich. Mit einer einzigen Bewegung griff der Carabiniere nach seiner Pistole und gab Brunetti mit der anderen Hand einen heftigen Stoß in den Rücken, so daß er zur Seite geschleudert und völlig aus dem Gleichgewicht gebracht wurde.
Brunetti ruderte mit den Armen in der Luft, unfähig, sich auf den Beinen zu halten. Einen Moment lang hing er zwischen Himmel und Erde, dann kippte der Boden auf ihn zu, und er wußte, daß er fallen würde. Dabei wandte er den Kopf und sah Ambrogiani direkt hinter sich, die Waffe in der Hand. Sein Herz zog sich in plötzlicher Angst zusammen. Er hatte diesem Mann vertraut,
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