Brunetti 03 - Venezianische Scharade
der jüngeren Kollegen diese Typen - nun ja, als so etwas wie Witzfiguren.«
»Warum sagen Sie das, Sergente Gallo?«
»Wenn etwa einer sich beschweren kommt, er sei von einem Kunden geschlagen worden - nicht, daß er nicht bezahlt wurde, verstehen Sie, darauf haben wir ja keinen Einfluß -, aber wenn es um Gewalt geht, dann will sich keiner von ihnen hinschicken lassen, um das zu untersuchen, auch wenn wir den Namen des Schlägers haben. Und wenn sie doch hingehen und ihn vernehmen, hat das meist keine Folgen.«
»Davon habe ich schon eine Kostprobe bekommen, sogar mehr als das, von Sergente Buffo«, warf Brunetti ein.
Bei dem Namen preßte Gallo die Lippen zusammen, sagte aber nichts.
»Und was ist mit den Frauen?« fragte Brunetti.
»Den Huren?«
»Ja. Gibt es Kontakte zwischen ihnen und den Transvestiten?«
»Schwierigkeiten hat es nie gegeben, jedenfalls weiß ich nichts davon, aber ich habe keine Ahnung, wie gut sie miteinander auskommen. Ich glaube nicht, daß sie sich um Kunden streiten, falls Sie das meinen.«
Brunetti war sich nicht ganz sicher, was er meinte, und er merkte, daß er keine klaren Fragen stellen konnte, bevor er nicht die Unterlagen in dem blauen Ordner gelesen oder jemand den Toten identifiziert hatte. Bis dahin war es sinnlos, über Motive zu reden, und bis dahin konnte es kein Verstehen des Geschehenen geben.
Er erhob sich und sah auf seine Uhr. »Ich würde gern morgen um halb neun abgeholt werden. Bis dahin sollte der Zeichner die Skizze fertighaben.
Sobald sie Ihnen vorliegt, auch wenn es heute abend ist, schicken Sie mindestens zwei Leute damit los. Sie sollen sich bei den anderen Transvestiten umhören, ob sie den Toten kennen oder ob aus Pordenone oder Padua einer vermißt wird. Und lassen Sie die Huren - die weiblichen meine ich - befragen, ob die Transvestiten auch in der Gegend arbeiten, in der er gefunden wurde, oder ob sie welche kennen, die jemals dort gearbeitet haben.« Er nahm den Ordner. »Ich lese mir das heute abend durch.«
Gallo hatte sich Notizen gemacht, während Brunetti sprach, aber jetzt stand er auf und geleitete ihn zur Tür.
»Wir sehen uns dann morgen früh, Commissario.« Damit ging er an seinen Schreibtisch zurück und griff zum Telefon. »Unten wartet ein Fahrer, der Sie zum Piazzale Roma zurückfährt.«
Während das Polizeiauto über die Schnellstraße in Richtung Venedig fuhr, sah Brunetti nach rechts aus dem Fenster und betrachtete die grauen, weißen, grünen und gelben Rauchschwaden, die aus Margheras unendlich vielen Schornsteinen quollen. Soweit das Auge reichte, umhüllte die Dunstglocke den riesigen Industriekomplex, und die untergehende Sonne machte eine strahlende Vision vom kommenden Jahrhundert daraus. Der Gedanke stimmte ihn traurig, und er wandte den Kopf, um Richtung Murano zu schauen und weiter zum fernen Turm der Kathedrale von Torcello, wo nach Ansicht einiger Historiker die Geschichte Venedigs vor mehr als tausend Jahren angefangen hatte, als die Küstenbewohner vor den anrückenden Hunnen auf die Inseln flüchteten.
Der Fahrer riß heftig das Lenkrad herum, um einem riesigen Camper mit deutschem Nummernschild auszuweichen, der auf dem Weg zu den Parkplätzen von Tronchetto plötzlich vor ihnen eingeschert war, und Brunetti wurde unsanft in die Gegenwart zurückgeholt. Schon wieder Hunnen, und kein Ort zum Verstecken diesmal.
Vom Piazzale Roma ging er zu Fuß nach Hause, ohne darauf zu achten, woran oder an wem er vorbeikam. In Gedanken war er noch bei jenem öden Stück Land und sah die Fliegen über der Stelle schwärmen, wo der Tote gelegen hatte. Morgen würde er die Leiche begutachten und mit dem Pathologen reden, mal sehen, was dabei zutage kam.
Er war kurz vor acht zu Hause, immer noch früh genug, daß es aussah, als käme er von einem normalen Arbeitstag. Als er die Wohnungstür aufschloß, vermißte er die üblichen Gerüche und Geräusche des Kochens. Neugierig ging er durch den Flur und steckte den Kopf in die Küche. Paola stand an der Spüle und schnitt Tomaten.
»Ciao, Guido«, sagte sie, sah auf und lächelte ihn an.
Er warf den blauen Ordner auf den Küchentisch, ging zu ihr hin und küßte sie auf den Nacken.
»Bei der Hitze?« fragte sie, lehnte sich aber dabei gegen ihn.
Er leckte zart an der Haut in ihrem Nacken. »Salzmangel«, sagte er und leckte wieder.
»Ich glaube, in der Apotheke gibt es Salztabletten«, meinte sie. »Wahrscheinlich hygienischer.« Sie beugte sich vor, aber nur, um eine
Weitere Kostenlose Bücher