Brunetti 03 - Venezianische Scharade
Fußgängern einer der ganz wenigen in Hemd und Krawatte und offenbar der einzige, der nicht stillstand.
»Ciao, bello.«
»Cosa vuoi, amore?«
»Tifaccio tutto che vuoi, caro.«
Die Angebote tönten ihm von beinah jeder Gestalt entgegen, an der er vorbeikam: Freude, Wonne, Seligkeit. Die Stimmen boten unerhörte Genüsse, versprachen ihm die Verwirklichung jeglicher Phantasie. Er blieb unter einer Straßenlaterne stehen und wurde sofort von einer großen Blondine angesprochen, die einen weißen Minirock und sonst wenig anhatte.
»Fünfzigtausend«, sagte sie. Sie lächelte mit entblößten Zähnen, als erhöhte das den Anreiz.
»Ich will einen Mann«, sagte Brunetti.
Sie wandte sich ohne ein Wort ab und stakste zum Randstein. Dort rief sie einem vorbeifahrenden Audi denselben Preis zu. Der Wagen fuhr weiter. Brunetti blieb, wo er war, und sie drehte sich wieder zu ihm um. »Vierzig«, sagte sie.
»Ich will einen Mann.«
»Die kosten viel mehr, und sie können nichts für dich tun, was ich nicht auch kann, bello.« Sie zeigte wieder ihre Zähne.
»Sie sollen sich ein Bild ansehen«, sagte Brunetti.
»Gesù bambino«, murmelte sie leise, »so einer also.« Dann lauter: »Das kostet dich extra. Bei denen. Ich mache alles für einen Preis.«
»Sie sollen sich das Bild eines Mannes ansehen und mir sagen, ob sie ihn erkennen.«
»Polizei?« fragte sie.
Brunetti nickte.
»Ich hätte es wissen müssen«, meinte sie. »Sie sind weiter oben, die Jungen, die Straße rauf, auf der anderen Seite vom Piazzale Leonardo da Vinci.«
»Danke«, sagte Brunetti und ging weiter. Am nächsten Randstein schaute er sich um und sah, wie die Blonde in einen dunkelblauen Volvo stieg.
Ein paar Minuten später war er am Piazzale. Er überquerte ihn mühelos zwischen den dahinschleichenden Autos und entdeckte auf der anderen Seite ein paar Gestalten, die in einem Grüppchen an einer niedrigen Mauer lehnten.
Im Näherkommen hörte er andere Stimmen, Tenöre diesmal, die gleichen Angebote rufen und die gleichen Freuden versprechen. So viel Glückseligkeit war hier zu haben.
Er ging auf die Gruppe zu und sah dabei vieles, was er schon auf seinem Weg vom Bahnhof gesehen hatte: mit grellrotem Lippenstift größer gemalte Münder, alle zu einem Lächeln verzogen, das einladend sein sollte; Wolken gefärbter Haare und Beine, Oberschenkel und Busen, die genauso echt aussahen wie die anderen, die er vorher gesehen hatte.
Zwei kamen und umflatterten ihn, Motten im Flammenschein seiner Zahlungsfähigkeit.
»Ganz, wie du's gern hättest, Süßer. Ohne Gummi. Genuß pur.«
»Mein Wagen steht gleich um die Ecke, caro. Dein Wunsch ist mir Befehl.«
Aus der Gruppe an der Mauer rief einer dem zweiten zu: »Frag ihn doch, ob er euch nicht beide will, Paolina.« Und an Brunetti gewandt: »Die beiden sind gemeinsam unübertroffen, amore; sie machen dir ein Sandwich, das du nie vergißt.« Worauf die anderen in schallendes Gelächter ausbrachen, ein tiefes Lachen, das nichts Feminines hatte.
Brunetti sprach den an, den die anderen Paolina genannt hatten. »Würden Sie sich das Bild eines Mannes ansehen und mir sagen, ob Sie ihn kennen?«
Paolina drehte sich um und rief den anderen zu: »Mädels, es ist ein Bulle. Ich soll mir Bilder ansehen.«
Ein Chor von Stimmen antwortete: »Sag ihm, das Echte ist besser als dreckige Bilder, Paolina.« - »Bullen kennen nicht mal den Unterschied.« - »Ein Bulle? Laß ihn das Doppelte zahlen.«
Brunetti wartete, bis ihnen nichts mehr einfiel, und fragte dann: »Sehen Sie sich das Bild an?«
»Was springt denn für mich raus, wenn ich es tue?« wollte Paolina wissen, und sein Gefährte mußte lachen, weil sein Freund sich so etwas einem Polizisten gegenüber herausnahm.
»Es ist das Bild des Mannes, den wir am Montag draußen auf den Wiesen gefunden haben.« Bevor Paolina sich unwissend stellen konnte, fügte Brunetti hinzu: »Ich bin sicher, Sie alle wissen von dem Mann und was ihm passiert ist. Wir müssen ihn identifizieren, um den Mörder zu finden. Ich denke, gerade Sie können verstehen, warum das wichtig ist.«
Ihm fiel auf, daß Paolina und sein Freund fast gleich angezogen waren, beide trugen hautenge Tunneltops und kurze Röcke, unter denen glatte, muskulöse Beine hervorsahen. Beide trugen spitze, hochhackige Schuhe; keiner der beiden hätte darin einem Angreifer davonlaufen können.
Paolinas Freund, dessen knallgelbes Perückenhaar bis auf die Schultern wallte, streckte die Hand aus:
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