Brunetti 03 - Venezianische Scharade
bitter.
»Nichts auf Gottes weiter Erde kann Maria Nardi mehr helfen, Lorenzo. Das wissen wir beide. Aber ich will die Männer finden, die diesen Wagen gefahren haben, und ich will ihre Auftraggeber.«
Vianello nickte, hatte aber nichts hinzuzufügen. Kurz darauf fragte er: »Und was ist mit ihrem Mann?«
»Was soll mit ihm sein?«
»Rufen Sie ihn an?« bat Vianello. »Ich kann es nicht.«
»Wo ist er?« erkundigte sich Brunetti.
»Im Hotel Imperial in Mailand.«
Brunetti nickte. »Ich rufe ihn am Vormittag an. Es jetzt zu tun halte ich für unsinnig. Es verlängert nur sein Leiden.«
Ein Uniformierter kam herein und brachte ihnen die Originale ihrer Aussagen und je zwei Fotokopien. Beide Männer saßen geduldig da, lasen die Schreibmaschinenabschriften durch, unterzeichneten Originale und Kopien und gaben sie dem Mann zurück. Als er gegangen war, stand Brunetti auf und sagte: »Ich glaube, es ist Zeit, daß wir nach Hause gehen, Lorenzo. Es ist nach vier. Haben Sie Nadia angerufen?«
Vianello nickte. Er hatte vor einer Stunde von der Questura aus mit ihr telefoniert. »Es war die einzige Arbeit, die sie kriegen konnte, ihr Vater war Polizist, da hat jemand ein gutes Wort für sie eingelegt, und sie wurde genommen. Wissen Sie, was sie wirklich werden wollte, Commissario?«
»Ich will nicht darüber reden, Lorenzo.«
»Wissen Sie, was sie wirklich wollte?«
»Lorenzo«, sagte Brunetti leise und warnend.
»Sie wollte Grundschullehrerin werden, aber sie wußte, daß es keine Stellen gibt, deshalb ist sie zur Polizei gegangen.«
Währenddessen waren sie langsam die Treppen hinuntergestiegen und gingen jetzt durch die Halle auf die hohen Doppeltüren zu. Die uniformierte Wache salutierte, als Brunetti vorbeiging. Die beiden Männer traten ins Freie, und von der anderen Seite des Kanals, aus den Bäumen am Campo San Lorenzo, empfing sie das beinah ohrenbetäubende Gezwitscher der Vögel, die den Morgen begrüßten. Es herrschte kein nächtliches Dunkel mehr, aber noch war das Tageslicht nur ein Versprechen, daß die Welt der undurchdringlichen Finsternis in eine der unendlichen Möglichkeiten verwandelt würde.
Sie standen am Kanal und sahen zu den Bäumen hinüber, die Blicke von dem angezogen, was ihre Ohren hörten. Beide hatten die Hände in den Taschen, und beide spürten die plötzliche Kühle, die vor dem Sonnenaufgang in der Luft lag.
»So etwas dürfte nicht passieren«, sagte Vianello. Und während er sich schon nach rechts zum Heimgehen wandte, fügte er noch hinzu: »Arrivederci, commissario«, und ging davon.
Brunetti schlug die entgegengesetzte Richtung ein, zurück zum Rialto und den Gassen, die ihn nach Hause führen würden. Sie hatten sie umgebracht, als ob sie eine Fliege wäre, hatten die Hand ausgestreckt, um ihn zu zermalmen, und statt dessen ihr Leben ausgelöscht. Einfach so. Eben war sie noch eine junge Frau, die sich vorbeugte, um einem Freund etwas zu sagen, die Hand leicht, vertrauensvoll und freundschaftlich auf seinen Arm gelegt, den Mund zum Sprechen gespitzt. Was hatte sie sagen wollen? Etwas Scherzhaftes? Hatte sie Vianello sagen wollen, daß sie ihn nur auf den Arm nehmen wollte, als sie vorhin hinten einstieg? Oder hatte es mit Franco zu tun gehabt, ein letztes sehnsüchtiges Wort? Niemand würde es je erfahren. Der flüchtige Gedanke war mit ihr gestorben.
Er würde ihren Franco anrufen, aber nicht jetzt. Sollte der junge Mann schlafen, bevor der große Schmerz kam. Brunetti wußte, daß er ihm nichts von Marias letzter Stunde mit Vianello im Auto erzählen konnte, jetzt noch nicht; er konnte es nicht ertragen, darüber zu sprechen. Er würde es ihm später erzählen, später, wenn der junge Mann in der Lage war, es sich anzuhören, erst dann, nach dem großen Schmerz.
Als er zur Rialtobrücke kam, warf er einen Blick nach links und sah gerade das Vaporetto anlegen, und dieser Zufall gab den Ausschlag für seine Entscheidung. Er lief zum Anleger und bestieg das Boot, fuhr bis zum Bahnhof und mit dem ersten Morgenzug über die Brücke. Gallo war nicht in der Questura, wie er wußte, deshalb nahm er am Bahnhof von Mestre ein Taxi und gab dem Fahrer Crespos Adresse.
Der Tag war gekommen, als er gerade nicht darauf achtete, und mit ihm die Hitze, die hier in dieser Stadt aus Asphalt und Beton, Straßen und Hochhäusern vielleicht noch schlimmer war. Brunetti war fast dankbar dafür, daß aufkommendes Unbehagen über die Temperatur und die hohe Luftfeuchtigkeit ihn von
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