Brunetti 04 - Vendetta
lebenslange Umgang mit Elettra wohl abnötigte. »Das mit der Zeitschrift war später«, erklärte sie dann. »Als wir aus dem Behandlungszimmer kamen, wollte Signora Trevisan wissen, was mit Francesca los sei. Ich sagte, es sei eine kleine Infektion, die bald abklingen werde. Damit schien sie zufrieden, und die beiden gingen.«
»Wie hat sie es dann erfahren?« wollte Brunetti wissen.
»Durch das Medikament, Zovirax. Es wird nur bei Herpesinfektionen verschrieben. Signora Trevisan hat einen befreundeten Apotheker danach gefragt, sicher so ganz beiläufig und nebenbei. Und er hat es ihr gesagt. Am nächsten Tag war sie wieder da, ohne Francesca, und warf mit Beleidigungen um sich.« Sie verstummte.
»Was für Beleidigungen?«
»Sie beschuldigte mich, ich hätte für Francesca eine Abtreibung arrangiert. Ich forderte sie auf, meine Praxis zu verlassen, und da hat sie die Zeitschrift genommen und nach mir geworfen. Zwei Patienten, ältere Männer, haben sie an den Armen gepackt und vor die Tür gesetzt. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.«
»Und das Mädchen?«
»Wie schon gesagt, ihr bin ich ein- oder zweimal auf der Straße begegnet, aber sie ist nicht mehr meine Patientin. Ich bekam von einem anderen Arzt ein Schreiben mit der Bitte, meine Diagnose zu bestätigen, was ich auch getan habe. Die Krankenunterlagen von Mutter und Tochter hatte ich inzwischen schon an Signora Trevisan geschickt.«
»Haben Sie eine Ahnung, wie sie auf die Idee kam, Sie hätten eine Abtreibung arrangiert?«
»Nein, nicht die geringste. Ich hätte das sowieso nicht ohne Einverständnis der Eltern tun können.«
Brunettis eigene Tochter, Chiara, war so alt, wie Francesca vor einem Jahr gewesen war: vierzehn. Er überlegte, wie er oder seine Frau reagieren würden, wenn sie erführen, daß ihre Tochter eine Geschlechtskrankheit hatte. Schieres Grauen ließ ihn vor dem Gedanken zurückschrecken.
»Warum wollen Sie nicht über Signora Trevisans Krankengeschichte sprechen?«
»Wie gesagt, weil sie in meinen Augen nichts zur Sache tut.«
»Und ich habe Ihnen gesagt, daß einfach alles zur Sache gehören kann«, entgegnete er, um einen sanften Ton bemüht, vielleicht mit Erfolg.
»Wenn ich Ihnen nun sage, sie hatte Rückenbeschwerden?«
»In diesem Fall hätten Sie von vornherein nicht gezögert, es mir zu sagen.«
Sie schwieg einen Moment und schüttelte dann den Kopf. »Nein. Sie war meine Patientin, und ich darf über das, was ich weiß, nicht sprechen.«
»Darf nicht oder will nicht?« fragte Brunetti, jetzt ohne jedes Bemühen um einen leichten Ton.
Ihr Blick war offen und gleichmütig. »Darf nicht«, wiederholte sie, dann sah sie auf ihre Armbanduhr. Mittlerweile trug sie eine mit Snoopy, wie er feststellte. »Ich muß vor dem Mittagessen noch einen Hausbesuch machen.«
Brunetti wußte, daß er gegen diese Entscheidung nicht ankam. »Vielen Dank, daß Sie mir Ihre Zeit geopfert haben. Und für Ihre Informationen«, sagte er aufrichtig. Und etwas persönlicher fügte er hinzu: »Eigentlich erstaunlich, wieso ich nicht schon früher gemerkt habe, daß Sie und Elettra Schwestern sind.«
»Na ja, sie ist fünf Jahre jünger als ich.«
»Ich dachte nicht ans Äußere«, sagte er. Und als sie fragend das Kinn hob, fügte er hinzu: »Der Charakter. Der ist sehr ähnlich.«
Sie lächelte übers ganze Gesicht. »Das haben uns schon viele gesagt.«
»Kann ich mir vorstellen«, sagte Brunetti.
Sie sagte eine ganze Weile nichts, aber dann lachte sie herzlich. Immer noch lachend schob sie ihren Stuhl zurück und griff nach ihrem Mantel. Er half ihr hinein, warf einen Blick auf den Kassenbon und legte das Geld auf den Tisch. Sie nahm ihre braune Tasche, und zusammen gingen sie hinaus auf die Piazza, um festzustellen, daß es sogar noch wärmer geworden war.
»Die meisten meiner Patienten sind überzeugt, daß darauf ein schrecklicher Winter folgt«, sagte sie mit einer Geste, die den gesamten Platz und das Licht, das ihn erfüllte, umschloß. Sie gingen die drei flachen Stufen hinunter und begannen, die Piazza zu überqueren.
»Und was würden Ihre Patienten sagen, wenn es unnatürlich kalt wäre?« fragte Brunetti.
»Na, genau dasselbe. Daß es ein sicheres Anzeichen für einen schlechten Winter ist«, antwortete sie, ohne sich im mindesten an dem Widerspruch zu stören. Da sie beide Venezianer waren, verstanden sie.
»Wir sind schon ein pessimistisches Völkchen, finden Sie nicht?« meinte Brunetti.
»Wir hatten
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