Brunetti 04 - Vendetta
war, wie Brunetti gleich gewußt hatte, von ihren Betrachtungen über politische Gerechtigkeit und Redlichkeit abgelenkt. »In der Zeitung, die ich gelesen habe, stand nur, daß er erschossen worden ist. Im Zug aus Turin.«
»Er hatte eine Fahrkarte ab Padua. Wir versuchen herauszufinden, was er dort gemacht hat.«
»Eine Frau?«
»Möglich. Noch zu früh, um etwas sagen zu können. Was gibt es zu essen?«
»Pasta e fagioli, danach cotoletta.«
»Salat?«
»Guido, hatten wir schon einmal cotoletta ohne Salat?« fragte sie mit spitzen Lippen und himmelwärts verdrehten Augen.
Statt einer Antwort fragte er: »Haben wir noch etwas von diesem guten Dolcetto?«
»Keine Ahnung. Wir haben letzte Woche mal eine Flasche getrunken, oder?«
Er brummelte etwas und kniete sich wieder vor das Schränkchen. Hinter den Sprudelflaschen standen drei Flaschen Wein, alle weiß. Im Aufstehen fragte er: »Wo ist Chiara?«
»In ihrem Zimmer. Warum?«
»Sie soll mir einen Gefallen tun.«
Paola sah auf die Uhr. »Es ist Viertel vor eins, Guido. Die Läden haben gleich zu.«
»Do Mori nicht. Da ist länger offen.«
»Und da willst du sie hinschicken, nur um dir eine Flasche Dolcetto zu holen?«
»Drei«, sagte er, und schon verließ er die Küche und ging den Flur entlang zu Chiaras Zimmer. Er klopfte und hörte, wie das Radio hinter ihm wieder angestellt wurde.
»Avanti, papà«, rief sie.
Er trat ein. Das Bett, auf dem Chiara der Länge nach lag, hatte einen weißen, gerafften Baldachin. Auf dem Boden lagen neben Schultasche und Jacke ihre Schuhe. Die Läden waren offen, und das Licht durchflutete den Raum und beleuchtete die Bären und anderen Plüschtiere, die das Bett mit ihr teilten. Sie strich sich eine dunkelblonde Strähne aus dem Gesicht, sah zu ihm auf und schenkte ihm ein Lächeln, das dem Licht Konkurrenz machte.
»Ciao, dolcezza«, sagte er.
»Du bist früh da, papà.«
»Nein, nur pünktlich. Hast du gelesen?«
Sie nickte mit einem Blick auf ihr Buch.
»Chiara, tust du mir einen Gefallen?«
Sie senkte das Buch und sah ihn darüber hinweg an.
»Ja, Chiara?«
»Wohin?« fragte sie.
»Nur schnell zu Do Mori.«
»Was fehlt denn?«
»Dolcetto.«
»Oh, papà, warum kannst du nicht mal etwas anderes zum Essen trinken?«
»Weil ich gern Dolcetto hätte, mein Herz.«
»Ich gehe, wenn du mitgehst.«
»Aber dann kann ich ja gleich selber gehen.«
»Wenn du willst, dann tu's doch, papà.«
»Ich will aber nicht, Chiara. Darum bitte ich dich ja, für mich zu gehen.«
»Aber warum ich?«
»Weil ich schwer arbeite, um euch alle zu ernähren.«
»Mamma arbeitet auch.«
»Ja, aber von meinem Geld bezahlen wir die Wohnung und alles, was dazugehört.«
Sie legte ihr Buch umgedreht aufs Bett. »Mamma sagt, das ist kapitalistische Erpressung, und ich soll nicht auf dich hören, wenn du so etwas tust.«
»Chiara«, erklärte er mit sehr sanfter Stimme, »deine Mutter ist eine Unruhestifterin, eine Nörglerin und eine Aufwieglerin.«
»Wieso sagst du dann immer, daß ich tun muß, was sie von mir verlangt?«
Er holte tief Luft. Chiara sah es, rutschte auf die Bettkante und angelte mit den Zehen nach ihren Schuhen. »Wie viele Flaschen willst du?« fragte sie trotzig.
»Drei.«
Sie beugte sich vor und band ihre Schuhe zu. Brunetti streckte die Hand aus und wollte ihr übers Haar streichen, aber sie wich mit einer Kopfbewegung aus. Nachdem die Schuhe zugebunden waren, stand sie auf und schnappte sich ihre Jacke. Wortlos schlüpfte sie an ihm vorbei in den Flur.
»Deine Mutter soll dir Geld geben«, rief er ihr nach, dann ging er ins Bad. Während er sich dort die Hände wusch, hörte er die Wohnungstür zuschlagen.
Als er in die Küche zurückkam, deckte Paola gerade den Tisch, aber nur für drei. »Wo ist Raffi?« fragte Brunetti.
»Er hat heute nachmittag eine mündliche Prüfung, darum sitzt er den ganzen Tag in der Bibliothek.«
»Und was ißt er?«
»Er holt sich irgendwo ein Sandwich.«
»Wenn er eine Prüfung hat, sollte er vorher eine anständige Mahlzeit zu sich nehmen.«
Sie warf ihm quer durch die Küche einen Blick zu und schüttelte den Kopf.
»Was ist?« fragte er.
»Nichts.«
»Doch, sag es nur. Warum schüttelst du den Kopf?«
»Ich frage mich manchmal, wie ich bloß so einen gewöhnlichen Mann heiraten konnte.«
»Gewöhnlich?« Von allen Beleidigungen, die Paola ihm im Lauf der Jahre an den Kopf geworfen hatte, empfand er diese als die schlimmste. »Gewöhnlich?« wiederholte
Weitere Kostenlose Bücher