Brunetti 04 - Vendetta
Pathologe sah keinen Grund, warum er, schwere Krankheit oder Unfall ausgenommen, nicht noch mindestens zwanzig Jahre hätte leben können.
»Zwei gestohlene Jahrzehnte«, murmelte Brunetti vor sich hin, als er das las, und dachte an die unendlich vielen Dinge, die ein Mann in zwanzig Jahren Lebenszeit noch tun konnte: ein Kind heranwachsen sehen, sogar noch Enkel; erfolgreich im Beruf arbeiten; ein Gedicht schreiben. Und Trevisan würde nun nie mehr die Chance haben, irgendeines von diesen Dingen zu tun, überhaupt noch irgend etwas zu tun. Mit das Grausamste an einem Mord war für Brunetti schon immer gewesen, daß dem Opfer gnadenlos alle Möglichkeiten genommen wurden, jemals wieder irgend etwas zu bewerkstelligen. Er war katholisch aufgewachsen, wußte also, daß für viele Menschen der größte Schrecken darin lag, daß dem Opfer die Gelegenheit zur Reue genommen wurde. Er mußte an Dantes Inferno denken, wo es an einer Stelle heißt: »Nur wer bereut, dem wird vergeben.« Obwohl Brunetti nicht gläubig war, ließ ihn die Magie des Glaubens nicht kalt, und er konnte sich vorstellen, welch schreckliche Aussicht das für viele Menschen sein mußte.
Es klopfte, und Sergente Vianello kam mit einer der hauseigenen blauen Mappen herein. »Dieser Mann war absolut sauber«, sagte er ohne Einleitung und legte die Mappe auf Brunettis Schreibtisch. »Für uns hätte er ebensogut nie existiert haben können. Das einzige, was wir von ihm haben, ist sein Reisepaß, den er« - Vianello unterbrach sich und schlug die Mappe auf, um das Datum nachzusehen - »vor vier Jahren hat erneuern lassen. Sonst nichts.«
An sich war das nicht überraschend; vielen Menschen gelang es, durch ihr ganzes Leben zu gehen, ohne das Augenmerk der Polizei auf sich zu lenken, bis sie zum zufälligen Opfer einer beliebigen Gewalttat wurden: von Trunkenheit am Steuer, einem Raubüberfall, der Panikreaktion eines Einbrechers. Doch nur äußerst wenige fielen einer Tat zum Opfer, die so sehr nach einem professionellen Mord aussah.
»Ich bin mit der Witwe verabredet«, sagte Brunetti. »Heute nachmittag um vier.«
Vianello nickte. »Über die engere Familie gibt es auch nichts.«
»Merkwürdig, finden Sie nicht?«
Vianello überlegte kurz und meinte dann: »Es ist doch ziemlich normal, daß Leute, sogar ganze Familien, nie mit uns zu tun haben.«
»Warum kommt es mir dann so merkwürdig vor?« fragte Brunetti.
»Vielleicht weil es eine kleinkalibrige Pistole war?« Sie wußten beide, daß solche Waffen von vielen Profikillern benutzt wurden.
»Können wir etwas über ihre Herkunft in Erfahrung bringen?«
»Kaum mehr als das Fabrikat«, sagte Vianello. »Ich habe die Daten der Geschosse nach Rom und Genf geschickt.« Beide wußten auch, daß dabei kaum irgendwelche nützlichen Informationen herauskommen würden.
»Und am Bahnhof?«
Vianello wiederholte, was die Kollegen schon in der Nacht zuvor erfahren hatten. »Hilft uns nicht viel weiter, nicht wahr, Dottore?«
Brunetti schüttelte den Kopf, dann fragte er: »Seine Kanzlei?«
»Als ich hinkam, waren die meisten schon zum Essen gegangen. Ich habe mit einer Sekretärin gesprochen, die tatsächlich in Tränen aufgelöst war, und danach noch mit dem Anwalt, der offenbar die Geschäfte in die Hand genommen hat«, sagte Vianello, schwieg kurz und fügte dann hinzu: »Der nicht.«
»Nicht in Tränen aufgelöst?« fragte Brunetti und sah interessiert auf.
»Genau, keine Tränen. Er schien von Trevisans Tod sogar ziemlich unberührt.«
»Auch von den Umständen?«
»Daß es Mord war?«
»Ja.«
»Das schien ihn ein bißchen zu erschüttern. Nach meinem Eindruck hatte er für Trevisan nicht viel übrig, aber daß er ermordet worden war, schockierte ihn doch.«
»Was hat er gesagt?«
»Eigentlich nichts«, antwortete Vianello, und dann zur Erklärung: »Es kam mehr durch das zum Ausdruck, was er nicht gesagt hat, alle die Dinge, die einem so einfallen, wenn jemand gestorben ist, auch wenn man ihn nicht mochte: daß es ein großer Verlust ist, daß man sehr mit der Familie fühlt, daß niemand den Verstorbenen ersetzen kann.« Er und Brunetti hatten diese Sätze im Lauf der Jahre so oft gehört, daß es sie nicht mehr überraschte, wenn sie merkten, daß der Sprecher log. Es überraschte sie allerdings, wenn jemand sich gar nicht erst die Mühe machte, das alles zu sagen.
»Noch etwas?« fragte Brunetti.
»Nein. Die Sekretärin hat gemeint, morgen seien alle Angestellten wieder da, heute
Weitere Kostenlose Bücher