Brunetti 04 - Vendetta
führte Brunetti über einen zweiten Gang in ein kleines Zimmer linker Hand. Es war schwer zu sagen, wozu dieser Raum diente: Es gab keine Bücher darin, keinen Fernseher, und die einzigen Sitzgelegenheiten waren Stühle in den vier Ecken des Zimmers. Zwei Fenster auf der einen Seite waren mit dunkelgrünen Vorhängen verhängt. In der Mitte stand ein runder Tisch und darauf eine Vase mit getrockneten Blumen. Weiter nichts, und kein Hinweis auf Sinn und Zweck des Zimmers.
»Sie können hier warten«, sagte Lotto und ging. Brunetti blieb kurz stehen, dann trat er an eines der Fenster und zog den Vorhang beiseite. Vor ihm lag der Canal Grande, auf dessen Wasser das Sonnenlicht glitzerte, und links drüben der Palazzo Dario, dessen Fassade mit ihrem Goldmosaik das Licht von der Wasserfläche aufnahm, um es in kleinste Teilchen zu zerlegen und aufs Wasser zurückzuwerfen. Boote zogen vorüber; die Minuten verstrichen.
Er hörte hinter sich die Tür aufgehen und drehte sich um, wollte die Witwe Trevisan begrüßen, aber statt ihrer trat ein junges Mädchen mit dunklem, schulterlangem Haar ein, sah Brunetti am Fenster stehen und zog sich so schnell wieder zurück, wie es gekommen war. Ein paar Minuten später wurde die Tür erneut geöffnet, doch diesmal war die Eintretende eine Frau Anfang Vierzig. Sie trug ein schlichtes schwarzes Wollkleid und so hohe Schuhe, daß sie fast so groß wie Brunetti war. Ihr Gesicht hatte dieselbe Form wie das des Mädchens, und ihr Haar war ebenfalls schulterlang und von derselben dunkelbraunen Farbe, wenngleich Brunetti den Eindruck hatte, daß bei der Farbe nachgeholfen worden war. Ihre Augen standen weit auseinander, wie die ihres Bruders, und strahlten Intelligenz und noch etwas aus, was Brunetti eher für Neugier als für Trauer hielt.
Sie kam auf ihn zu und streckte die Hand aus. »Commissario Brunetti?«
»Ja, Signora. Es tut mir leid, daß wir uns unter solchen Umständen kennenlernen müssen. Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie bereit sind, mit mir zu sprechen.«
»Ich möchte alles tun, um Ihnen zu helfen, Carlos Mörder zu finden.« Ihre Stimme war sanft, der Akzent ein leichter Anklang an die verschluckten Hauchlaute der Florentiner.
Sie blickte sich um, als sähe sie das Zimmer zum erstenmal. »Warum hat Ubaldo Sie hier hereingeführt?« fragte sie, und während sie schon kehrtmachte, fügte sie hinzu: »Kommen Sie mit.«
Brunetti folgte ihr auf den Flur, wo sie rechter Hand eine andere Tür öffnete. Sie kamen in einen viel größeren Raum mit drei Fenstern, die auf den Campo San Maurizio hinausgingen; offenbar ein Arbeits- oder Lesezimmer. Sie führte ihn zu zwei tiefen Sesseln, nahm in dem einen Platz und deutete auf den zweiten.
Brunetti setzte sich, doch als er die Beine übereinanderschlagen wollte, merkte er, daß der Sessel dafür viel zu niedrig war. So stützte er beide Ellbogen auf die Armlehnen und legte die Hände auf dem Bauch übereinander.
»Was möchten Sie von mir wissen, Commissario?« fragte Signora Trevisan.
»Ich möchte wissen, ob Ihr Mann in den letzten Wochen, vielleicht auch Monaten, beunruhigt oder nervös auf Sie gewirkt hat, oder ob er sich sonst auf eine Art verändert hatte, die Ihnen merkwürdig erschien.«
Sie wartete, ob noch mehr zu dieser Frage käme, und als das offenbar nicht der Fall war, dachte sie ein Weilchen darüber nach. Schließlich antwortete sie: »Nein, mir fällt dazu nichts ein. Carlo war immer sehr von seiner Arbeit in Anspruch genommen. Und angesichts der politischen Veränderungen in den letzten Jahren und der Öffnung neuer Märkte hatte er besonders viel zu tun. Aber nein, er war in den letzten Monaten nicht nervöser, als er es auch sonst durch die Arbeitsbelastung war.«
»Hat er je mit Ihnen über Fälle gesprochen, an denen er gerade arbeitete, oder vielleicht über einen Klienten, mit dem er besonders viel Ärger hatte?«
»Nein, nicht direkt.«
Brunetti wartete.
»Er hatte einen neuen Klienten«, sagte sie endlich. »Ein Däne, der ein Importgeschäft eröffnen wollte, Käse und Butter, glaube ich, und Probleme mit den neuen EU-Richtlinien hatte. Carlo versuchte für ihn eine Möglichkeit zu finden, wie er seine Produkte über Frankreich statt über Deutschland transportieren könnte. Oder vielleicht war es andersherum. Er war sehr engagiert in der Sache, aber ich kann nicht sagen, daß sie ihn mitgenommen hätte.«
»Und in der Kanzlei? Wie waren die Beziehungen zu seinen Angestellten? Friedlich?
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