Brunetti 04 - Vendetta
schildern lassen, bis er das Gespräch mit der Bitte beendete, ihm alle für den Fall wichtigen Unterlagen zu faxen.
Er brauchte zwanzig Minuten, um den Bericht über den internationalen Prostituiertenhandel zu finden, und eine halbe Stunde, um ihn zu lesen. Es war eine ernüchternde Lektüre, und den letzten Satz: »Nach Schätzungen verschiedener polizeilicher und internationaler Organisationen könnten in diesen Handel eine halbe Million Frauen verwickelt sein«, mochte er kaum glauben. In dem Bericht wurden Dinge aufgeführt, von denen er, wie die meisten Polizisten in Europa, durchaus Kenntnis hatte; erschreckend aber war das Ausmaß und die Verflochtenheit des Ganzen.
Der Ablauf unterschied sich kaum von dem, was Mara erlebt haben wollte: Einer jungen Frau aus einem Entwicklungsland wurde ein neues Leben in Europa in Aussicht gestellt, die Grundlage war manchmal Liebe, süße Liebe, meist aber nur das Versprechen einer Stelle als Hausmädchen, manchmal auch als Bardame. Dort in Europa könne sie ein ordentliches Leben anfangen, sagte man ihr, und Geld genug verdienen, um ihrer Familie etwas zu schicken, vielleicht sogar eines Tages die Familie nachkommen zu lassen in jenes Paradies auf Erden.
Nach ihrer Ankunft mußten sie meist ähnliche Erfahrungen machen wie Mara: Sie stellten fest, daß der Arbeitsvertrag, den sie vor der Abreise unterschrieben hatten, oft ein Schuldschein über Summen bis zu 50.000 Dollar war, zahlbar an den, der ihre Verfrachtung nach Europa organisiert hatte. Und so saßen sie nun in einem fremden Land, hatten ihren Paß dem ausgehändigt, der sie hergebracht hatte, und bekamen eingeredet, daß ihre bloße Gegenwart ein Gesetzesverstoß sei, für den sie verhaftet und wegen der hohen Verschuldung, die sie mit ihrer Unterschrift eingegangen seien, lange hinter Gitter kommen könnten. Trotzdem begehrten viele dagegen auf, ohne Angst vor Verhaftung. Eine Bandenvergewaltigung machte sie dann meist gefügig. Wenn nicht, mußte noch brutalere Gewalt herhalten. Manche starben. Das sprach sich herum. Es gab kaum noch Gegenwehr.
Und so füllten sich die Bordelle der Industrieländer mit schwarzhaarigen, dunkelhäutigen Exotinnen: Thailänderinnen, deren sanfte Bescheidenheit dem Überlegenheitsgefühl der Männer so schmeichelte; Mischlinge aus der Dominikanischen Republik, und wir wissen doch alle, wie gern diese Schwarzen es tun; und nicht zuletzt die Brasilianerinnen, diese heißblütigen Cariocas, geborene Huren.
Weiter hieß es in dem Bericht, daß sich angesichts der erleichterten Transportbedingungen neue Märkte in Osteuropa auftäten, wo Tausende von blonden, blauäugigen Frauen ihren Arbeitsplatz verlören oder durch die Inflation um ihre Ersparnisse gebracht würden. Siebzig Jahre Entbehrungen unter dem Kommunismus machten sie anfällig für die Verlockungen des Westens, und sie kämen in Personen, und Lastwagen, zu Fuß, manchmal sogar mit Schlitten, alle auf der Suche nach dem Eldorado ihrer westlichen Nachbarn, nur um bei ihrer Ankunft festzustellen, daß sie ohne Papiere, ohne Rechte und ohne Hoffnung dastanden.
Brunetti glaubte das alles, nur die Zahl - eine halbe Million - überstieg sein Vorstellungsvermögen. Er blätterte ans Ende vor und las die Namen der Menschen und Organisationen, die diesen Bericht zusammengestellt hatten; sie überzeugten ihn schließlich auch von der Zahl, obwohl es das alles nicht erträglicher machte. In Italien gab es ganze Provinzen, in denen keine halbe Million Frauen lebte. Mit dieser Zahl könnte man ganze Städte bevölkern.
Als er fertig war, legte er den Bericht in die Mitte seines Schreibtischs, schob ihn dann aber weiter weg, als fürchtete er Ansteckung. Er öffnete eine Schublade, nahm einen Bleistift und ein Stück Papier heraus und schrieb rasch drei Namen darauf. Einer war ein brasilianischer Polizeimajor, den er vor einigen Jahren bei einem Seminar in Paris kennengelernt hatte; einer war der Inhaber einer Import-Export-Firma mit Büros in Bangkok; und die dritte war Pia, eine Prostituierte. Sie alle standen bei Brunetti aus dem einen oder anderen Grund in der Schuld, und er sah keine bessere Möglichkeit, diese Schulden einzutreiben, als sie um Informationen zu bitten.
In den nächsten zwei Stunden vertelefonierte er eine Summe, die sich später durch ein paar Tastendrücke am Zentralcomputer der Telecom in Luft auflösen sollte. Am Ende wußte er zwar wenig mehr, als er bereits dem Bericht entnommen hatte, aber es war ein
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