Brunetti 04 - Vendetta
im Arbeitszimmer seines Schwiegervaters hatte liegen sehen.
Die Frau hinter dem Schreibtisch hatte helles Haar, das an den Seiten zurückgenommen und mit geschnitzten Elfenbeinkämmchen festgesteckt war. Die Schlichtheit der Frisur stand im Gegensatz zu Material und Schnitt ihres dunkelgrauen Rohseidekostüms mit dicken Schulterpolstern und schmal geschnittenen Ärmeln. Sie mußte in den Dreißigern sein, aber ihr geschicktes Make-up und die allgemeine Eleganz ihrer Erscheinung ließen nur schwer bestimmen, ob Anfang oder Ende Dreißig. Sie trug eine Hornbrille. Am linken Glas war in der unteren Ecke ein halbmondförmiges, gut erbsengroßes Stück herausgeplatzt.
Sie blickte bei seinem Eintreten auf, lächelte mit geschlossenen Lippen, nahm die Brille ab und legte sie auf die vor ihr liegenden Papiere, sagte aber nichts. Ihre Augenfarbe paßte, wie er sah, so genau zur Farbe ihres Kostüms, daß es kein Zufall sein konnte. Wenn Brunetti sie so ansah, mußte er unwillkürlich an Figaros Worte über Cherubino denken: Lockenhaar, strahlendes Antlitz, rosige Wangen.
»Sì?« fragte sie.
»Signora Ceroni?«
»Ja.«
»Ich bringe Ihnen Ihre Brille«, sagte Brunetti, wobei er das Etui aus der Tasche nahm, ohne die Frau aus den Augen zu lassen.
Sie strahlte vor Freude, was sie noch reizvoller machte. »Ach, das ist aber schön«, sagte sie und erhob sich. »Wo haben Sie die nur gefunden?«
Brunetti hörte einen leichten Akzent heraus, vielleicht slawisch, auf jeden Fall osteuropäisch. Er reichte ihr wortlos das Etui über den Schreibtisch. Sie nahm es und legte es, ohne hineinzusehen, auf den Schreibtisch.
»Wollen Sie nicht nachsehen, ob es auch Ihre ist?« fragte er.
»Nein, ich erkenne sie am Etui«, antwortete sie. Dann fragte sie lächelnd: »Aber woher wußten Sie, daß es meine ist?«
»Wir haben alle Optiker in der Stadt angerufen.«
»Wir?« fragte sie. Doch dann besann sie sich auf ihre Manieren und sagte: »Bitte, nehmen Sie doch Platz. Wie unhöflich von mir.«
»Danke«, sagte Brunetti und setzte sich auf einen der drei Stühle vor ihrem Schreibtisch.
»Entschuldigen Sie, aber Roberta hat mir Ihren Namen nicht gesagt.«
»Brunetti, Guido Brunetti.«
»Vielen Dank, Signor Brunetti, daß Sie sich die Mühe gemacht haben. Sie hätten mich aber auch anrufen können, dann hätte ich sie gern bei Ihnen abgeholt. Sie hätten nicht durch die ganze Stadt laufen müssen, um sie mir zu bringen.«
»Durch die ganze Stadt?« wiederholte Brunetti.
Seine Frage überraschte sie, aber nur ganz kurz. Sie wischte sowohl die Frage als auch ihr Erstaunen darüber mit einer Handbewegung weg. »Wie man so redet. Der Laden hier ist ja etwas abgelegen.«
»Ja, natürlich«, sagte er.
»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
»Sie könnten mir sagen, wo Sie die Brille verloren haben.«
Sie lächelte wieder. »Also, wenn ich wüßte, wo ich sie verloren habe, wäre sie ja nicht verloren gewesen, oder?«
Sie sah ihn über den Schreibtisch hinweg an, aber er sagte nichts. Sie betrachtete das Etui und zog es zu sich herüber. Sie nahm die Brille heraus, verdrehte den einen Bügel, genau wie Brunetti es im Restaurant gemacht hatte, und zog dann beide mit einem Ruck auseinander. Wieder bog sich das Gestell, brach aber nicht.
»Erstaunlich, nicht?« fragte sie, ohne ihn anzusehen. Brunetti schwieg weiter.
Schließlich sagte sie im selben, ganz und gar beiläufigen Ton: »Ich wollte nichts damit zu tun haben.«
»Mit uns?« fragte Brunetti. Wenn sie schon wußte, daß er die ganze Stadt hatte durchqueren müssen, um zu ihr zu kommen, wußte sie ja wohl sicher auch, woher er kam.
»Ja.«
»Warum?«
»Er war verheiratet.«
»In wenigen Jahren schreiben wir das einundzwanzigste Jahrhundert, Signora.«
»Was meinen Sie damit?« fragte sie und sah aufrichtig verwirrt zu ihm auf.
»Daß ›verheiratet‹ oder ›unverheiratet‹ kaum noch etwas bedeutet.«
»Seiner Frau schon«, entgegnete sie heftig. Sie legte die Brille zusammen und schob sie wieder in das Lederetui.
»Auch nachdem er tot aufgefunden wurde?«
»Gerade da. Ich wollte erst gar nicht den Verdacht aufkommen lassen, daß ich damit etwas zu tun haben könnte.«
»Hatten Sie etwas damit zu tun?« »Commissario Brunetti«, sagte sie, und es gelang ihr tatsächlich, ihn durch die Anrede mit seinem Titel zu überraschen. »Ich habe fünf Jahre gebraucht, um Bürgerin dieses Landes zu werden, und selbst jetzt zweifle ich nicht daran, daß mir diese
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