Brunetti 04 - Vendetta
den zweiten Lautsprecher.
Noch ein paar Leute verzogen sich. Die Frau auf dem Podium kam die Treppe herunter und verschwand in der Menge, rasch gefolgt von zweien der Männer. Als der Lärm nicht verstummte, erhob sich der in der Bomberjacke und beriet sich tuschelnd mit dem Mann, der das Mikrofon hielt. Als auch Brunetti seine Aufmerksamkeit von ihnen abwandte, standen nur noch wenige Leute vor dem Podium.
Er stieg wieder über das niedrige Gitter und ging weiter auf die Accademia-Brücke zu. Gerade kam er an dem kleinen Blumenkiosk am Ende des campo vorbei, als die Musik und die Knistergeräusche plötzlich abbrachen und eine Männerstimme, jetzt nur noch durch ihre Wut verstärkt, sich vernehmen ließ: »Cittadini, Italiani«, aber Brunetti blieb nicht stehen und drehte sich auch nicht mehr um.
Er merkte, daß er das Bedürfnis hatte, mit Paola zu reden. Er hatte sie wie immer - und wie immer regelwidrig - über den Fortgang seiner Ermittlungen auf dem laufenden gehalten und ihr seine Eindrücke von den Menschen geschildert, die er verhört hatte, und von den Antworten, die sie gaben. Diesmal hatte Paola, weil niemand von vornherein nackt im Scheinwerferstrahl der Schuld stand, davon abgesehen, ihm die Person zu nennen, die nach ihrer Überzeugung der Mörder war, eine Angewohnheit, die Brunetti ihr bisher noch nicht hatte austreiben können. Ohne diese vorschnelle Gewißheit war sie nun die vollkommene Zuhörerin, die Fragen stellte und ihn zwang, ihr die Dinge so deutlich zu erklären, daß sie etwas damit anfangen konnte. Und wenn er gezwungen war, einen Rest von Unbehagen in Worte zu fassen, verstand er es selbst oft besser.
Diesmal hatte sie keinerlei Mutmaßungen angestellt, keine Andeutungen gemacht, keinen Verdacht gegenüber einem der Menschen geäußert, von denen er sprach. Sie hörte nur interessiert zu, mehr nicht.
Zu Hause angekommen, mußte er feststellen, daß Paola noch nicht da war, aber Chiara wartete schon auf ihn. »Papà«, rief sie aus ihrem Zimmer, als sie die Wohnungstür aufgehen hörte. Gleich darauf erschien sie in ihrer Zimmertür, in der Hand eine aufgeschlagene Illustrierte. Brunetti erkannte das gelbumrahmte Titelblatt von Airone, ebenso wie er in den üppigen Fotos, dem Hochglanzpapier und dem schlichten Stil weitere Ähnlichkeiten mit dem National Geographie erkannte, an das sie sich so eng anlehnte.
»Was gibt's denn, mein Herz?« fragte er und bückte sich, um sie aufs Haar zu küssen, dann ging er seinen Mantel in den Schrank bei der Tür hängen.
»Hier ist ein Preisausschreiben drin, papà, und wenn man gewinnt, kriegt man ein kostenloses Abo.«
»Aber hast du nicht schon ein Abo?« fragte er, denn er hatte es ihr selbst zu Weihnachten geschenkt.
»Darum geht es nicht, papà.«
»Worum geht es denn?« erkundigte er sich, schon auf dem Weg durch den Flur in die Küche. Dort machte er Licht und ging an den Kühlschrank.
»Ums Gewinnen geht es«, sagte Chiara, die ihm gefolgt war, und Brunetti fragte sich, ob die Zeitschrift für seine Tochter nicht doch ein wenig zu amerikanisch war.
Er fand eine Flasche Orvieto, sah sich das Etikett an, stellte sie wieder weg und holte den Soave heraus, den sie tags zuvor zum Abendessen angebrochen hatten. Er nahm sich ein Glas, goß es voll und trank einen Schluck. »Also, Chiara, worum geht es bei dem Preisausschreiben?«
»Um einen Namen für einen Pinguin.«
»Namen für einen Pinguin?« fragte Brunetti verständnislos.
»Ja, guck mal, hier!« Sie hielt ihm die Zeitschrift mit einer Hand hin und zeigte mit der anderen auf ein Foto. Was Brunetti sah, erinnerte ihn an die filzigen Knäuel, die Paola manchmal beim Leeren des Staubsaugers zutage förderte. »Was ist das?« fragte er, wobei er seiner Tochter die Zeitschrift aus der Hand nahm und sie unters Licht hielt.
»Das ist das Pinguinbaby, papà. Es ist letzten Monat im Zoo von Rom geboren worden und hat noch keinen Namen. Darum haben sie jetzt einen Preis für den ausgesetzt, dem der beste Name einfällt.«
Brunetti klappte die Illustrierte ganz auseinander und sah sich das Foto genauer an. Doch, ja, er sah einen Schnabel und zwei runde schwarze Augen. Zwei gelbe Schwimmfüße. Auf der Seite gegenüber war ein ausgewachsener Pinguin abgebildet, aber Brunetti suchte vergeblich nach einer Familienähnlichkeit zwischen den beiden.
»Was für einen Namen?« fragte er. Beim Weiterblättern durch die Zeitschrift sah er Hyänen, Ibisse und Elephanten an sich
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