Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brunetti 04 - Vendetta

Brunetti 04 - Vendetta

Titel: Brunetti 04 - Vendetta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
Vom Netzwerk:
nannte. Bei diesem Namen verwandelten sich alle Ereignisse seit Trevisans Tod in die bunten Glasstückchen eines riesigen Kaleidoskops, das nur Brunetti sah, und der eine Name war die letzte Drehung des Zylinders, der die Glasstückchen in Bewegung setzte und zu einem Muster zusammenfügte. Das Bild war noch nicht vollständig, noch nicht ganz scharf, aber es war da, und Brunetti verstand.
    Er nahm sein Adreßbuch aus einer Schreibtischschublade und blätterte darin, bis er die Telefonnummer von Roberto Linchianko fand, einem Oberstleutnant der philippinischen Militärpolizei, der zusammen mit Brunetti vor drei Jahren an einem zweiwöchigen Polizeiseminar in Lyon teilgenommen hatte. Die Freundschaft, die sie damals geschlossen hatten, bestand weiter, auch wenn sie nur per Telefon oder Fax miteinander kommunizierten.
    Brunettis Summer ertönte. Er ignorierte ihn, nahm den Hörer vom Telefon, bekam eine Amtsleitung und wählte Linchiankos Privatnummer, obwohl er nicht die Spur einer Ahnung hatte, wieviel Uhr es jetzt in Manila war. Sechs Stunden voraus, wie sich zeigte, und das hieß, er hatte Linchianko gerade vor dem Zubettgehen erwischt. O ja, er kenne Euro-Employ. Sein Abscheu drang über die Ozeane hinweg durch die Leitung. Euro-Employ sei nur eine von vielen Agenturen, die Handel mit jungen Frauen betrieben, und sie sei noch nicht einmal die übelste. Alles, was die Frauen unterschrieben, bevor sie zum »Arbeiten« nach Europa führen, sei völlig legal. Daß die Papiere von einer Analphabetin einfach mit einem »x« unterzeichnet seien - oder von einer Frau, die der Sprache, in der die Verträge abgefaßt seien, nicht mächtig war -, beeinträchtigte ihre Legalität in keiner Weise, so daß auch keine der Frauen, denen die Heimkehr auf die Philippinen gelang, auf die Idee kam, gerichtlich gegen die Agentur vorzugehen. Zurück kamen, soviel Linchianko wußte, allerdings nur wenige. Die Zahl der verschickten Frauen schätzte er auf fünfzig bis hundert pro Woche, allein über Euro-Employ. Abschließend gab er ihm noch den Namen eines Reisebüros durch, das die Flüge buchte, ein Name, den Brunetti schon von seiner Liste kannte. Bevor sie auflegten, versprach Linchianko, ihm nicht nur die amtliche Polizeiakte über Euro-Employ und das Reiseunternehmen zu faxen, sondern auch die persönlichen Aufzeichnungen, die er seit Jahren über alle Arbeitsvermittlungen in Manila führte.
    Brunetti hatte keine persönlichen Kontakte in den anderen Städten auf der Telecom-Liste, aber was er von Linchianko erfahren hatte, war mehr als genug, um sich den Rest vorstellen zu können.
    Eines der Dinge, über die Brunetti sich immer wunderte, wenn er in Werken der römischen und griechischen Geschichte las, war die Leichtigkeit, mit der die Altvordern die Sklaverei akzeptiert hatten. Die Kriegsregeln waren damals andere gewesen als heute, ebenso die wirtschaftlichen Grundlagen ihrer Gesellschaft, so daß Sklaven sowohl verfügbar als auch notwendig waren. Vielleicht war es der Gedanke, daß es einem jederzeit selbst so ergehen konnte, falls das eigene Land einen Krieg verlor, der das Ganze akzeptabel machte, nur eine kleine Drehung des Schicksalsrads machte einen zum Sklaven oder Herrn. Aber keiner hatte sich je dagegen ausgesprochen, nicht Plato und nicht Sokrates, oder falls doch, dann war das, was sie gesagt oder geschrieben hatten, nicht überliefert.
    Auch heute erhob, soviel er wußte, niemand seine Stimme dagegen, aber heute beruhte dieses Schweigen auf dem Glauben, es gebe keine Sklaverei mehr. Jahrzehntelang hatte er Paolas radikalen politischen Ansichten zugehört, war schon fast taub geworden für ihre Vorträge, in denen sie mit Begriffen wie »Lohnsklaven« und »ökonomische Ketten« um sich warf, doch nun nahmen alle diese Klischees Gestalt an, um ihn zu verfolgen, denn was Linchianko ihm geschildert hatte, verdiente keinen anderen Namen als Sklaverei.
    Brunettis innerer Monolog wurde vom erneuten Summen der Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch abrupt unterbrochen.
    »Ja, Vice-Questore?« meldete er sich.
    »Ich möchte Sie sprechen«, sagte ein verstimmter Patta.
    »Komme sofort.«
    Signorina Elettra war nicht mehr an ihrem Platz, als Brunetti nach unten kam, also ging er in Pattas Büro, ohne zu wissen, was er zu erwarten hatte; aber da gab es ja nicht allzu viele Möglichkeiten, denn wie viele Formen konnte Unmut schon annehmen?
    Heute sollte er erfahren, daß er nicht Zielscheibe von Pattas Mißfallen war,

Weitere Kostenlose Bücher