Brunetti 04 - Vendetta
Gondel nehmen sollte. Vor ihm schlenderten drei junge Burschen Arm in Arm dahin. »Attenti«, rief Brunetti im Näherkommen, und zwar so laut, daß es beim besten Willen nicht mehr höflich klang. Die Jungen sprangen auseinander, und Brunetti stürmte an ihnen vorbei. Bis er zum Campo Santa Maria Formosa kam, war er so ausgepumpt, daß er auf einen müden Trab zurückschalten mußte. Kurz vor der Rialtobrücke geriet er in dichten Fußgängerverkehr, und einmal stieß er im Vorbeihasten sogar den Rucksack einer Touristin grob beiseite. Hinter sich hörte er das Mädchen ärgerlich etwas rufen, was deutsch klang, doch er rannte weiter.
Aus dem Durchgang heraus und auf den Campo San Bartolomeo, wo er sich scharf nach links wandte, da er sich nun doch für die Gondel entschieden hatte, um dem nachmittäglichen Gedränge auf der Brücke auszuweichen. Zu seinem Glück lag gerade eine Gondel an der Haltestelle. Zwei alte Damen standen im hinteren Teil. Er rannte über den hölzernen Anleger und sprang hinein. »Los, fahren wir«, rief er dem Gondoliere zu, der am Heck auf seinem Ruder lehnte. »Polizei, setzen Sie mich über.«
So gelassen, als mache er das alle Tage in der Woche, stemmte der Gondoliere am Bug sich gegen die Stufen, und die Gondel glitt rückwärts in den Canal Grande. Der Gondoliere am Heck packte sein Ruder und legte sich mit voller Kraft hinein; die Gondel drehte sich langsam und hielt aufs gegenüberliegende Ufer zu. Die alten Damen, Fremde, klammerten sich ängstlich aneinander und setzten sich dann auf die niedrige Bank im Bootsheck.
»Können Sie mich ans Ende der Calle Tiepolo bringen?« fragte Brunetti den Mann am Bug.
»Sind Sie wirklich von der Polizei?« wollte dieser wissen.
»Ja«, sagte Brunetti, wobei er in die Tasche griff und dem Mann seinen Ausweis zeigte.
»Danke.« Damit wandte er sich an die Damen und sagte in Veneziano: »Wir machen einen kleinen Umweg, Signore.«
Die beiden waren durch die Vorgänge viel zu eingeschüchtert, um etwas zu sagen.
Brunetti stand aufrecht, blind für die Boote, blind für das Licht, blind für alles, außer für ihre langsame Fahrt über den Canal Grande. Endlich, nach Stunden, wie es ihm vorkam, legten sie am Ende der Calle Tiepolo an, und die beiden Gondolieri hielten das Boot im Gleichgewicht, während Brunetti ans Ufer stieg. Er drückte dem Mann im Bug zehntausend Lire in die Hand und wandte sich im Laufschritt die calle hinauf.
In der Gondel war Brunetti wieder zu Atem gekommen, er rannte nun bis nach Hause und die drei ersten Treppen hinauf. Schnell nahm er auch die vierte und fünfte, aber keuchend und mit wackligen Beinen. Er hörte oben die Tür aufgehen, und als er hochsah, stand Paola dort und hielt sie ihm auf.
»Paola«, begann er.
Bevor er noch etwas sagen konnte, schrie sie zu ihm herunter: »Hoffentlich bist du glücklich, wenn du siehst, was deine kleine Detektivin für dich entdeckt hat. Hoffentlich bist du glücklich, wenn du die Welt siehst, in die du sie mit deinen Fragen und deinen Nachforschungen einführst.« Sie war ganz rot im Gesicht und vor Wut dem Platzen nah.
Er trat in die Wohnung und schloß die Tür. Paola wandte sich von ihm ab und ging den Flur entlang. Er rief sie, aber sie beachtete ihn nicht und knallte gleich darauf die Küchentür hinter sich zu. Er ging zu Chiaras Zimmer und blieb davor stehen. Stille. Er horchte, ob er sie schluchzen hörte oder sonst ein Ton ihm verriet, daß sie da drin war. Nichts. Er ging über den Flur zur Küche zurück und klopfte an. Paola öffnete und starrte ihn mit versteinertem Blick an.
»Sag mir doch, was los ist«, bat er. »Sag's mir.«
Er hatte Paola schon oft zornig gesehen, so aber noch nie, so bebend vor Wut oder einem noch tieferen Gefühl.
Instinktiv hielt Brunetti Abstand von ihr und wiederholte bewußt ruhig: »Sag mir, was los ist.«
Paola sog Luft durch die zusammengepreßten Zähne. Ihre Halssehnen waren so angespannt, daß sie vorstanden. Er wartete.
Als sie dann sprach, klang ihre Stimme so gepreßt, daß er sie kaum verstand. »Sie kam heute nachmittag heim und sagte, sie müsse sich ein Video ansehen. Ich war in meinem Arbeitszimmer beschäftigt und habe ihr gesagt, sie soll es sich allein ansehen, aber den Ton leise stellen.« Paola hielt kurz inne und sah ihn fest an. Brunetti schwieg.
Wieder sog sie Luft durch die Zähne und fuhr dann fort: »Nach einer Viertelstunde fing sie auf einmal zu schreien an. Als ich aus dem Arbeitszimmer kam, war sie
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