Brunetti 05 - Acqua alta
gerade. Er hatte ›Nadel‹ gesagt, aber dann war ihm eingefallen, daß der Arzt damals eine Büroklammer benutzt hatte, weil er meinte, eine Nadel sei zu dünn, um schnell genug durch den Nagel zu brennen.
Im Zimmer nahm er die Kerze und stellte sie ans Fußende des Bettes, hinter Paolas Rücken. »Es ist vielleicht besser, wenn du nicht zuschaust, Engelchen«, sagte er zu Chiara. Um das auch sicherzustellen, setzte er sich Rücken an Rücken mit Paola auf die Bettkante und deckte Chiaras Fuß auf.
Als er ihn berührte, zog sie ihn instinktiv weg, murmelte »Entschuldige« in Paolas Schulter hinein und streckte ihm den Fuß wieder hin. Brunetti nahm ihn in die linke Hand und schob den Eisbeutel beiseite. Er mußte sich andersherum drehen, vorsichtig, um dabei die Kerze nicht umzustoßen, bis er ihnen beiden gegenübersaß. Dann klemmte er Chiaras Ferse zwischen seine Knie.
»Ist schon gut, Schätzchen. Es dauert nur einen Moment«, sagte er, nahm mit der einen Hand die Kerze und hielt mit der anderen die Büroklammer in die Flamme. Als die Hitze ihm die Finger versengte, ließ er die Büroklammer fallen, und Wachs spritzte auf die Bettdecke. Frau und Tochter schraken bei seiner plötzlichen Bewegung zusammen.
»Einen Moment noch, einen Moment«, sagte er und eilte unter unverständlichem Gemurmel wieder in die Küche. Aus der untersten Schublade nahm er eine Zange und ging damit in Chiaras Zimmer. Als die Kerze wieder angezündet und alles bereit war, packte er die Büroklammer mit der Zange am einen Ende und hielt das andere in die Flamme. Er wartete, bis die Klammer rot glühte, dann drückte er schnell, damit er keine Zeit zum Nachdenken über sein Tun hatte, das glühende Ende mitten in Chiaras Zehennagel. Dort hielt er es fest, bis der Nagel zu rauchen begann, und packte mit der linken Hand ihren Knöchel, damit sie den Fuß nicht wegziehen konnte.
Plötzlich gab der Widerstand unter der Büroklammer nach, und dunkles Blut quoll aus dem Zehennagel und lief ihm über die Finger. Er zog die Klammer heraus und drückte dabei, mehr seinem Instinkt als seiner Erinnerung folgend, von unten gegen den Zeh, um das dunkle Blut durch das Loch im Nagel herauszupressen.
Während der ganzen Prozedur hatte Chiara sich an Paola geklammert, die ihrerseits den Blick von Brunettis Tun abgewandt hielt. Doch als er aufblickte, sah er Chiara über die Schulter ihrer Mutter hinweg zuerst auf ihn, dann auf ihren Fuß schauen. »Ist das alles?« fragte sie.
»Ja«, antwortete er. »Wie fühlt es sich an?«
»Schon viel besser, papà. Der Druck ist weg, und es klopft nicht mehr.« Sie begutachtete sein Werkzeug: Kerze, Zange, Büroklammer. »Und das ist alles, was man dazu braucht?« fragte sie nur noch neugierig, die Tränen waren vergessen.
»Ja, das ist alles«, sagte er und drückte sanft ihr Fußgelenk.
»Glaubst du, ich kann das auch?« fragte sie.
»Meinst du, bei dir selbst oder bei jemand anderem?« fragte er zurück.
»Beides.«
»Ich wüßte nicht, warum nicht.«
Paola, von ihrer Tochter über der Faszination dieser neuen wissenschaftlichen Entdeckung offenbar vergessen, löste die Arme von dem nicht länger leidenden Kind und nahm Eisbeutel und Handtuch vom Bett. Sie stand auf, sah einen Moment auf die beiden hinunter, wie um eine fremdartige Lebensform zu studieren, und entfernte sich dann über den Flur in die Küche.
17
Am nächsten Morgen war Chiaras Fuß soviel besser, daß sie zur Schule gehen konnte, wenn sie auch drei Paar Wollsocken übereinander trug und die hohen Gummistiefel ihres Bruders, nicht nur, weil es noch immer wie aus Kübeln goß und weiterhin acqua alta drohte, sondern weil sie in den viel zu großen Stiefeln reichlich Platz für ihren Zeh hatte. Sie war schon fort, als ihr Vater soweit war und in die Küche kam, aber auf dem Frühstückstisch lag ein großes Blatt Papier mit einem riesigen roten Herzen, unter dem sie in ihrer akkuraten Blockschrift geschrieben hatte: »Grazie, papà.« Er faltete den Bogen zu einem ordentlichen Rechteck und steckte ihn in seine Brieftasche.
Brunetti hatte bei Brett und Flavia nicht erst angerufen, um seinen Besuch anzukündigen, aber es war schon fast zehn, als er klingelte, und das erschien ihm als ausreichend schickliche Uhrzeit, um über Mord zu reden.
Er nannte der Stimme aus der Sprechanlage seinen Namen und stieß die schwere Tür auf, als der Öffner betätigt wurde. Er stellte seinen Schirm neben dem Eingang in die Ecke, schüttelte sich wie
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