Brunetti 05 - Acqua alta
Pause: »Es ist irrational, aber so ist das eben. Während der Kulturrevolution haben sie ihn zehn Jahre Schweine hüten und Dünger auf Kohlfeldern verteilen lassen. Danach durfte er weiterstudieren, und da er ein brillanter Kopf war, konnte man kaum umhin, ihm die Stelle in Peking zu geben. Aber außer Landes wollten sie ihn nicht lassen. Mit der Ausstellung sind nur Parteibonzen gereist, die im Ausland einkaufen wollten.«
»Und Sie.«
»Und ich, ja.« Dann fügte sie noch leise hinzu: »Und Matsuko.«
»Demnach wird man für den Diebstahl Sie verantwortlich machen?«
»Natürlich. Ich bin verantwortlich. Ist doch klar, daß sie die mitreisenden Parteikader nicht beschuldigen werden, wenn sie jemanden aus dem kapitalistischen Westen haben, dem sie die ganze Geschichte in die Schuhe schieben können.«
»Was ist denn Ihrer Meinung nach passiert?«
Sie schüttelte den Kopf. »Für mich reimt sich das alles nicht. Oder was sich reimt, kann ich nicht glauben.«
»Und das wäre?«
Brunetti wurde von Flavia unterbrochen, die mit einem Tablett aus der Küche kam. Sie ging an ihm vorbei, setzte sich neben Brett aufs Sofa und stellte das Tablett vor sich auf den Tisch. Zwei Tassen Kaffee standen darauf. Sie reichte die eine Brunetti, nahm sich die andere und lehnte sich zurück. »Es sind zwei Stücke Zucker drin.«
Ohne sich durch die Unterbrechung stören zu lassen, sprach Brett weiter: »Einer der Parteikader muß hier von jemandem angesprochen worden sein.« Obwohl Flavia die vorausgegangene Frage nicht gehört hatte, machte sie aus ihrer Meinung zu dieser Antwort kein Hehl. Sie drehte sich zu Brett um und starrte sie mit eisigem Schweigen an, dann sah sie zu Brunetti und begegnete seinem Blick. Als keiner etwas sagte, fuhr Brett fort: »Schon gut, schon gut. Oder Matsuko. Vielleicht war es Matsuko.«
Früher oder später würde sie sich gezwungen sehen, dieses »vielleicht« zu streichen, da war sich Brunetti ziemlich sicher.
»Und Semenzato?« fragte er.
»Möglich. Auf jeden Fall einer vom Museum.«
Er unterbrach sie. »Diese Leute, die Sie Kader nennen, sprach von denen einer Italienisch?«
»Ja, zwei oder drei.«
»Zwei oder drei?« wiederholte Brunetti. »Wie viele waren es denn?«
»Sechs«, antwortete Brett. »Die Partei sorgt für die Ihren.«
Flavia schniefte.
»Wie gut war denn ihr Italienisch, wissen Sie das noch?« fragte Brunetti.
»Gut genug«, antwortete sie knapp. Doch nach kurzem Überlegen räumte sie ein: »Nein, nicht gut genug für so etwas. Ich war die einzige, die mit den Italienern reden konnte. Wenn sich da etwas abgespielt hat, dann auf englisch.« Matsuko hatte, wie Brunetti sich erinnerte, in Berkeley studiert.
Aufgebracht fuhr jetzt Flavia dazwischen: »Brett, wann hörst du endlich auf, dir etwas vorzumachen, und schaust dir an, wie es wirklich war? Es ist mir egal, was zwischen dir und dieser Japanerin war, aber du mußt endlich mal klarsehen. Es ist dem Leben, mit dem du da spielst.« So abrupt sie angefangen hatte, brach sie auch wieder ab, nippte an ihrer Kaffeetasse, merkte, daß sie leer war, und stellte sie heftig vor sich auf den Tisch.
Lange sagte keiner etwas, bis Brunetti endlich fragte: »Wann könnte der Austausch stattgefunden haben?«
»Nach Schließung der Ausstellung«, antwortete Brett mit zittriger Stimme.
Brunetti wandte den Blick zu Flavia, aber sie schwieg und sah auf ihre Hände, die sie locker auf dem Schoß verschränkt hatte.
Brett seufzte tief und flüsterte: »Ja gut, ja gut.« Sie lehnte den Kopf an die Rückenlehne des Sofas und sah dem Regen zu, der über die Scheiben der Oberlichter lief. Schließlich sagte sie: »Sie war zum Einpacken hier. Sie mußte jedes Stück beglaubigen, bevor der italienische Zoll zuerst die einzelnen Pakete, dann die Frachtkisten versiegelte.«
»Hätte sie eine Fälschung erkannt?« fragte Brunetti.
Es dauerte lange, bis Brett antwortete. »Ja, sie hätte den Unterschied bemerkt.« Einen Augenblick lang glaubte er, sie wolle noch etwas hinzufügen, aber sie tat es nicht. Sie beobachtete den Regen.
»Wie lange kann es gedauert haben, alles einzupacken?«
Brett überlegte kurz, dann meinte sie: »Vier Tage vielleicht. Oder fünf.«
»Und danach? Wohin sind die Kisten von hier aus gegangen?«
»Sie wurden von einer Alitalia-Maschine nach Rom geflogen, wo sie allerdings infolge eines Streiks auf dem Flughafen über eine Woche liegenblieben. Von dort gingen sie nach New York und blieben da beim
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