Brunetti 05 - Acqua alta
hineingehen und schloß die Tür hinter ihr. Da stand sie völlig durchnäßt und begann allmählich zu frieren.
Ein schwer gebauter Mann in den Fünfzigern stand in der Mitte eines Zimmers voller Plexiglasvitrinen auf samtbezogenen Postamenten, die sie etwa auf Augenhöhe brachten. Punktstrahler, zwischen den schweren Deckenbalken versteckt, beleuchteten die Vitrinen, von denen auch einige leer waren. Ein paar Nischen in den weißen Wänden waren ebenso erhellt, aber sie enthielten offenbar alle irgendwelche Gegenstände.
Der Mann kam auf sie zu, lächelnd. »Dottoressa Lynch, es ist mir wahrhaft eine Ehre. Ich hätte mir nie träumen lassen, Sie einmal kennenlernen zu dürfen.« Er blieb mit ausgestreckter Hand vor ihr stehen und fuhr fort: »Als erstes möchte ich Ihnen sagen, daß ich Ihre Bücher gelesen habe und sie sehr erhellend fand, vor allem das über Keramiken.«
Brett machte keine Anstalten, seine Hand zu ergreifen, worauf er sie wieder sinken ließ, ohne sich aber von der Stelle zu rühren. »Ich bin so froh, daß Sie bereit waren, mich hier zu besuchen.«
»Hatte ich denn eine andere Wahl?« fragte Brett.
Der Mann lächelte. »Natürlich hatten Sie eine andere Wahl, Dottoressa. Wir haben immer die Wahl. Nur wenn die Wahl schwierig ist, behaupten wir gern, wir hätten keine. Aber wir haben sie immer. Sie hätten sich weigern können herzukommen, und Sie hätten die Polizei rufen können. Das haben Sie aber nicht getan, oder?« Wieder lächelte er, und sein Blick strahlte tatsächlich so etwas wie Wärme aus, was entweder Humor zeigen sollte oder etwas so Finsteres bedeutete, daß Brett darüber lieber nicht nachdachte.
»Wo ist Flavia?«
»Oh, Signora Petrelli ist wohlauf, das kann ich Ihnen versichern. Als ich zuletzt von ihr hörte, befand sie sich zwischen der Riva degli Schiavoni und Ihrer Wohnung.«
»Sie haben sie also gar nicht?«
Er lachte laut auf. »Natürlich habe ich sie nicht, Dottoressa. Ich hatte sie nie. Es wäre unnötig, Signora Petrelli in diese Sache hineinzuziehen. Außerdem würde ich es mir nie verzeihen, wenn ihrer Stimme etwas zustieße. Damit wir uns recht verstehen, die Musik, die sie singt, mag ich zum Teil nicht«, sagte er mit der Herablassung derer, die einen gehobeneren Geschmack haben, »aber ich habe die größte Hochachtung vor ihrem Talent.«
Brett drehte sich abrupt um und ging zur Tür. Sie drückte auf die Klinke, aber die Tür ging nicht auf. Sie versuchte es mit mehr Nachdruck, doch nichts rührte sich. Währenddessen war der Mann durchs Zimmer nach hinten gegangen, bis er vor einer der angestrahlten Vitrinen stand. Als sie sich umdrehte, sah sie ihn gedankenverloren die kleinen Gegenstände darin betrachten, als hätte er ihre Anwesenheit völlig vergessen.
»Lassen Sie mich raus?« fragte sie.
»Möchten Sie nicht meine Sammlung sehen, Dottoressa?«
»Ich will hier raus.«
Er betrachtete immer noch versunken die beiden Figurinen in der Vitrine. »Diese kleinen Jadefiguren stammen aus der Shang-Dynastie, meinen Sie nicht auch? Wahrscheinlich An-Yang-Zeit.« Er drehte sich zu ihr um und lächelte. »Ich weiß, das ist lange vor der Zeit, die Ihr Spezialgebiet ist, Dottoressa, etwa tausend Jahre, aber ich bin sicher, Sie kennen die Stücke.« Er ging zur nächsten Vitrine und blieb davor stehen, um ihren Inhalt zu betrachten. »Sehen Sie sich nur einmal diese Tänzerin an. Die Farbe ist größtenteils erhalten; eine Seltenheit bei Stücken aus der westlichen Han-Dynastie. Unten am Ärmel fehlen ein paar Splitter, aber wenn ich sie etwas nach links drehe, sieht man das gar nicht, oder?« Er nahm den Plexiglaskasten von dem Postament und stellte ihn neben sich auf den Boden. Vorsichtig nahm er die vielleicht fünfunddreißig Zentimeter hohe Figur in die Hände und trug sie durchs Zimmer.
Er blieb vor Brett stehen und drehte die Statue um, damit sie die winzigen Absplitterungen am Ende eines der langen Ärmel sehen konnte. Die Farbe auf dem oberen Teil des Gewandes war nach all den Jahrhunderten noch rot, und das Schwarz des Rocks glänzte noch. »Ich nehme an, sie ist erst kürzlich aus einem Grab geborgen worden. Ich kann mir nicht vorstellen, was sie sonst so perfekt erhalten haben könnte.«
Er drehte die Statue wieder richtig herum und ließ Brett einen letzten Blick darauf werfen, bevor er zurückging und sie sorgsam wieder auf ihren Platz stellte. »Was für eine gute Idee, den Toten schöne Dinge, schöne Frauen, mitzugeben.« Er hielt inne,
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