Brunetti 05 - Acqua alta
Worte auf einen Zettel und ging zur Bücherwand. Sie warf einen Blick auf die Anzeigen des CD-Spielers, drückte auf ›repeat‹, steckte das Papier in die leere Hülle der CD, klappte sie zu und lehnte sie an das Schubfach des Geräts. Dann nahm sie ihr Schlüsselbund vom Tischchen in der Diele und verließ die Wohnung.
Als sie unten die Haustür öffnete, traten rasch zwei Männer in den Flur. Den einen erkannte sie sofort als den kleineren der beiden, die sie zusammengeschlagen hatten, und es gelang ihr nur durch größte Willensanstrengung, nicht vor ihm zurückzuweichen. Er lächelte und streckte die Hand aus. »Die Schlüssel«, verlangte er. Sie nahm sie aus der Tasche und übergab sie ihm. Er verschwand nach oben und blieb etwa fünf Minuten, während der andere Mann sie im Auge behielt und sie das Wasser unter der Tür hereindringen sah, den Vorboten von acqua alta.
Als der andere Mann wiederkam, öffnete sein Kumpan die Tür, und sie traten hinaus ins steigende Wasser. Es regnete schwer, aber keiner von ihnen hatte einen Schirm. Eilig schlugen sie den Weg Richtung Rialto ein, wobei die beiden sie immer in die Mitte nahmen und nur hintereinander gingen, wenn ihnen in den engen Gassen jemand entgegenkam. Hinter der Rialtobrücke wollten die beiden Männer nach links abbiegen, aber entlang des Canal Grande stand das Wasser schon zu hoch, so daß sie über den verlassenen Markt weitergehen mußten, auf dem nur noch die Tapfersten ausharrten. Dann wandten sie sich nach links, stiegen auf die Holzplanken, die man auf ihre Metallstützen gelegt hatte, und setzten ihren Weg Richtung San Polo fort.
Im Gehen begriff Brett, wie übereilt sie gehandelt hatte. Sie konnte in keiner Weise sicher sein, daß der Anrufer tatsächlich Flavia in seiner Gewalt hatte. Aber wie hätte er sonst so genau wissen können, wann sie das Haus verlassen und wohin sie sich gewandt hatte, wenn ihr nicht jemand gefolgt war? Und sie konnte auch nicht sicher sein, daß er Flavia wirklich gehen lassen würde, nachdem sie, Brett, sich bereit gefunden hatte, zu ihm zu kommen. Es bestand nur die Chance. Sie dachte an Flavia, sah sie an ihrem Bett sitzen, als sie im Krankenhaus aufgewacht war, sah sie auf der Bühne im ersten Akt von Don Giovanni singen: »E nasca il tuo timor dal mio periglio«, und sie erinnerte sich auch an andere Dinge. Es war eine Chance; und die ergriff sie.
Der Mann vor ihr bog links ab, stieg von den Holzbohlen ins Wasser hinunter und ging weiter auf den Canal Grande zu. Sie erkannte die Calle Dolera, erinnerte sich, daß es hier eine Reinigung gab, die sich auf Wildleder spezialisiert hatte, und wunderte sich über ihre Fähigkeit, in einer solchen Situation an so etwas Triviales denken zu können.
Im Wasser, das ihnen jetzt schon weit bis über die Knöchel reichte, blieben sie schließlich vor einer breiten Holztür stehen. Der kleinere Mann öffnete sie mit einem Schlüssel, und Brett fand sich in einem großen Innenhof wieder, wo der Regen auf das dort eingeschlossene Wasser herunterprasselte. Die beiden Männer führten sie über den Hof, der eine vor, der andere hinter ihr. Sie stiegen eine Außentreppe hinauf, gingen durch eine weitere Tür und traten ins Haus. Dort wurden sie von einem jüngeren Mann in Empfang genommen, der den beiden mit einem Nicken bedeutete, daß sie gehen konnten. Dann drehte er sich wortlos um und führte Brett über einen Flur und eine zweite Treppe hinauf, dann eine dritte. Oben sagte er zu ihr: »Geben Sie mir Ihren Mantel.«
Er trat hinter sie, um ihn ihr abzunehmen. Mit vor Kälte und Angst starren Fingern fummelte sie an den Knöpfen herum, bis es ihr endlich gelang, sie aufzubekommen. Er nahm den Mantel und ließ ihn lässig zu Boden fallen, dann drängte er sich von hinten an sie, umschlang sie mit den Armen und legte die Hände um ihre Brüste. Immer fester drückte er seinen Körper an ihren, rieb sich rhythmisch an ihr und flüsterte ihr ins Ohr: »Wohl noch nie einen richtigen italienischen Mann gehabt, angelo mio? Aber warte nur. Warte.«
Brett ließ kraftlos den Kopf nach vorn sinken und fühlte, wie ihre Knie weich wurden. Sie hielt sich mit Mühe auf den Beinen, verlor aber den Kampf gegen die Tränen, »Ah, das ist schön«, sagte er hinter ihr. »Ich mag es, wenn du weinst.«
In dem Zimmer, vor dem sie standen, sprach jemand. So unvermittelt, wie der Mann sie gepackt hatte, ließ er jetzt von ihr ab und öffnete die Tür. Er trat zur Seite, ließ sie allein
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