Brunetti 06 - Sanft entschlafen
Giustinian verbinden.
Minuten später hatte er Dottor Messinis Sekretärin am Apparat und verabredete für vier Uhr nachmittags einen Termin, um mit dem Direktor über eine Verlegung seiner Mutter, Regina Brunetti, ins San Leonardo zu sprechen.
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O bwohl der Stadtteil, in dem sich das Ospedale Giustinian befand, geographisch nicht weit von Brunettis Wohnung entfernt war, kannte er sich dort nicht besonders gut aus, wahrscheinlich weil er nicht zwischen seiner Wohnung und den Bezirken lag, in denen er normalerweise zu tun hatte. Er kam dorthin nur gelegentlich auf dem Weg zur Giudecca oder auch an manchen Sonntagen, wenn Paola und er einen Spaziergang zu den Fondamenta delle Zattere machten, um sich in einem der Cafes am Wasser in die Sonne zu setzen und die Zeitungen zu lesen.
Was Brunetti über diese Gegend wußte, war wie so vieles, was er und alle übrigen Venezianer von ihrer Stadt kannten, eine Mischung aus Legenden und Tatsachen. Hinter dieser Mauer lag der Garten der ehemaligen Filmdiva, die jetzt mit einem Industriellen aus Turin verheiratet war; hinter jener wohnte der Letzte aus dem Geschlecht der Contradini, von dem man munkelte, er habe sein Haus seit zwanzig Jahren nicht mehr verlassen. Diese Tür führte ins Haus der letzten lebenden Donna Salva, die man seit Jahren nur noch zur Eröffnung der jeweiligen Opernsaison sah, dann aber stets in der Königsloge und immer ganz in Rot gekleidet. Brunetti kannte diese Mauern und Türen so, wie Kinder ihre Comic- und Fernsehhelden kannten, und gleich diesen Figuren riefen die Häuser und Palazzi ihm seine Jugend in Erinnerung, als er die Welt noch anders gesehen hatte.
Wie Kinder den Possen von Mickymaus und Popeye entwuchsen und die Illusionen durchschauten, die dahintersteckten, hatte Brunetti im Lauf seiner Polizeijahre die oft recht düstere Wirklichkeit erfahren, die sich hinter den Mauern seiner Jugend verbarg. Die Diva trank, und der Industrielle aus Turin war schon zweimal festgenommen worden, weil er sie geschlagen hatte. Der letzte Contradini lebte tatsächlich seit zwanzig Jahren hinter einer dicken Mauer mit oben einbetonierten Glasscherben, bewacht und versorgt von drei Dienstboten, die ihn gar nicht erst von seiner Überzeugung abzubringen versuchten, daß Mussolini und Hitler noch an der Macht wären und die Welt somit sicher sei vor den dreckigen Juden. Und von der letzten lebenden Donna Salva wußten nur wenige, daß sie lediglich in die Oper ging, weil sie dort Vibrationen vom Geist ihrer Mutter zu empfangen glaubte, die vor fünfundsechzig Jahren in derselben Loge gestorben war.
Das Pflegeheim stand ebenfalls hinter einer hohen Mauer. Eine Bronzetafel verkündete den Namen und die Besuchszeiten: täglich von neun bis elf. Nachdem Brunetti geklingelt hatte, trat er ein paar Schritte zurück, sah aber keine Glasscherben auf der Mauer. Wer sich in einem Pflegeheim befand, würde wohl kaum noch die Kraft aufbringen, eine solche Mauer zu erklimmen, sagte er sich, Glas hin oder her. Und da ihnen Geld ohnehin zu nichts mehr nütze war, besaßen diese Alten und Gebrechlichen nichts mehr außer ihrem Leben, was man ihnen hätte rauben können.
Die Tür wurde von einer Nonne in weißer Tracht geöffnet, die ihm gerade bis zur Schulter reichte. Unwillkürlich beugte er sich vor: »Buona sera, suora, ich bin mit Dottor Messini verabredet.«
Die Schwester blickte ratlos zu ihm auf. »Aber der Dottore ist nur montags hier«, sagte sie.
»Ich habe erst heute vormittag mit seiner Sekretärin telefoniert, sie sagte, ich könne um vier Uhr herkommen, um mit ihm über eine Verlegung meiner Mutter in dieses Haus zu sprechen.« Brunetti warf einen Blick auf die Uhr, um seinen Verdruß zu überspielen. Die Sekretärin hatte ihm den Zeitpunkt der Verabredung präzise bestätigt, und es irritierte ihn, daß jetzt niemand hier sein sollte.
Die Nonne lächelte, und Brunetti bemerkte zum erstenmal, wie jung sie war. »Oh, dann haben Sie die Verabredung sicher mit Dottoressa Alberti, seiner Stellvertreterin.«
»Könnte sein«, räumte Brunetti liebenswürdig ein.
Sie gab die Tür frei, und er trat in einen großen Innenhof mit überdachtem Brunnen in der Mitte. An diesem geschützten Ort trugen die Rosen schon dicke Knospen, und von einem dunkelvioletten Fliederbusch in der Ecke wehte Brunetti ein süßer Duft entgegen. »Sehr schön hier«, meinte er.
»Ja, nicht wahr?« sagte sie und ging voraus zu einem Durchgang auf der gegenüberliegenden
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