Brunetti 07 - Nobiltà
Geste. Er hätte in Klammern sogar schon die Stellen vorgeben können, an denen er innehalten und die Hände vor die Augen schlagen würde, wenn er sich über dieses unnennbare Verbrechen ausließ.
Ebenso leicht hätte er auch die Schlagzeilen schreiben können, die ihm mit Sicherheit von jedem Kiosk der Stadt entgegenschreien würden: Delitto in famiglia; Caino e Abele; Figlio Adottivo - Assassino. Um beidem zu entgehen, rief er in der Questura an und sagte, er werde nicht vor dem frühen Nachmittag da sein, und er weigerte sich, die Zeitungen auch nur anzusehen, die Paola geholt hatte, während er noch schlief. Da sie ahnte, dass er ihr alles über die Lorenzonis gesagt hatte, was er sagen wollte, ließ sie das Thema ruhen und ging zum Rialto, um Fisch einzukaufen. Brunetti, der seinem Gefühl nach zum ersten Mal seit Wochen nichts zu tun hatte, nahm sich vor, in seine Bücher endlich die Ordnung zu bringen, die er in die Ereignisse der Welt offenbar nicht bringen konnte, und ging ins Wohnzimmer, wo er sich vor den deckenhohen Bücherschrank stellte. Vor Jahren waren die Bücher einmal nach Sprachen geordnet gewesen, und als diese Ordnung sich auflöste, hatte er es mit einer chronologischen versucht. Aber die Neugier der Kinder hatte dem bald ein Ende gemacht, und so stand jetzt Petronius neben Johannes Chrysostomus, und Abaelard machte sich an Emily Dickinson heran. Er besah sich die aufgereihten Bände, zog zuerst einen heraus, dann noch zwei und noch einmal zwei. Doch dann verlor er urplötzlich das Interesse an dieser Arbeit, nahm alle fünf Bände und stopfte sie wahllos ganz unten in eine Lücke.
Er nahm Ciceros De officiis vom obersten Brett herunter und blätterte bis zu dem Kapitel vom rechten Handeln, wo Cicero von den Kategorien des sittlich Guten spricht. Die erste sei die Fähigkeit, Wahres vom Falschen zu unterscheiden und die Beziehung zwischen einem Phänomen und einem anderen sowie die Gründe und Folgen eines jeden Einzelnen zu verstehen. Die zweite Kategorie sei die Fähigkeit, Leidenschaften zu zügeln. Und die dritte, sich in Beziehungen zu anderen überlegt und verständnisvoll zu verhalten.
Er klappte das Buch zu und stellte es wieder an den Platz, den ihm die wechselhaften Launen der Familie Brunetti zugewiesen hatten: zwischen John Donne zur rechten und Karl Marx zur Unken. Die Beziehung zwischen einem Phänomen und einem anderen sowie die Gründe und Folgen eines jeden Einzelnen zu verstehen, sagte er laut vor sich hin und fuhr beim Klang seiner eigenen Stimme zusammen. Er ging in die Küche, schrieb einen Zettel für Paola und machte sich doch früher als vorgehabt auf den Weg zur Questura.
Als er dort ankam, war es schon weit nach elf. Die Presse hatte ihren Auftritt schon gehabt und war wieder abgezogen, so dass es ihm wenigstens erspart blieb, Pattas Verlautbarungen mit anhören zu müssen. Er nahm die Hintertreppe zu seinem Dienstzimmer, machte die Tür hinter sich zu und setzte sich an seinen Schreibtisch.
Dann klappte er die Akte Lorenzoni auf und las Seite für Seite alles noch einmal durch. Angefangen mit der Entführung vor zwei Jahren, notierte er in zeitlicher Reihenfolge alles, was er wusste Er brauchte vier Blätter für diese Liste, die mit Maurizios Tod endete.
Er legte die vier Blätter vor sich, Tarot-Karten des Todes. Wahres vom Falschen zu unterscheiden. Die Beziehung zwischen einem Phänomen und einem anderen und die Gründe und Folgen eines jeden. Wenn Maurizio die Entführung organisiert hatte, erklärten sich daraus alle Phänomene, alle Beziehungen und Folgen waren klar. Das Verlangen nach Reichtum und Macht, vielleicht sogar Eifersucht wäre dann Grund für die Entführung gewesen. Und das wiederum hätte zu dem Mordversuch an seinem Onkel und somit zu seinem eigenen gewaltsamen Tod geführt, dem Blut am Jackett, dem Hirngewebe an den Fortuny-Vorhängen.
Aber wenn Maurizio nicht der Schuldige war, gab es keine Beziehung zwischen den Phänomenen. Ein Onkel mochte seinen Neffen umbringen, aber ein Vater brachte seinen Sohn nicht um, nicht auf solch ganz besonders kaltblütige Weise.
Brunetti hob den Blick und sah aus dem Fenster seines Zimmers. Auf einer Seite der Waage lag dieses unbestimmte Gefühl, dass Maurizio nicht das Zeug zum Mörder gehabt hatte, auch nicht um die Mörder zu dingen. Auf der anderen Waagschale lag ein Szenario, in dem Conte Ludovico seinen Neffen kaltblütig erschoss, und wenn das stimmte, musste er auch der Mörder seines eigenen
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