Brunetti 07 - Nobiltà
sollte. Wenn der Behälter undicht gewesen war, hätte er das nie erfahren, er hätte nichts weiter mit zurückgebracht als die seltsamen Krankheitssymptome, die ihn von Arzt zu Arzt getrieben hatten.
Er hätte darüber nicht mit seinem Vater gesprochen, wohl aber mit seinem Vetter, dem Jungen, der mit ihm Jugend und Unschuld geteilt hatte. Und Maurizio wäre gegenüber dem, was Roberto da beschrieb, sehr schnell misstrauisch geworden, hätte die Symptome als das erkannt, was sie waren: Robertos Todesurteil.
Brunetti saß lange an seinem Schreibtisch, starrte auf die Tür seines Zimmers, dachte über das sittlich Gute nach und begann die Beziehungen zwischen einem Phänomen und dem anderen und die Folgen eines jeden einzelnen zu verstehen. Was er nicht verstand, noch nicht, das war, wie der Conte davon erfahren hätte.
Ciceros Rat war, die Leidenschaften zu zügeln. Wenn jemand seinen eigenen Sohn Raffi kaltblütig umgebracht hätte, würde er, Brunetti, seine Leidenschaft nicht zu zügeln vermögen, das wusste er. Er würde zornig, rücksichts- und erbarmungslos reagieren, vergessen, dass er Polizist war, nur Vater sein und die Täter jagen und vernichten. Er würde Vergeltung um jeden Preis suchen. Cicero ließ in seinen Regem für das sittlich Gute keine Ausnahmen zu, aber ein solches Verbrechen würde einen Vater doch gewiss der Pflicht entheben, sich überlegt und verständnisvoll zu verhalten, und ihm das menschliche Recht geben, Vergeltung zu üben.
Brunetti grübelte darüber nach, bis die Sonne unterging und auch das letzte bisschen Licht aus seinem Zimmer mit sich nahm.
Als es schon fast ganz dunkel war, knipste er das Licht an. Dann ging er an seinen Schreibtisch, nahm den Aktenordner aus der untersten Schublade und las alles noch einmal gründlich durch. Er machte sich keine Notizen, obwohl er oft den Blick hob und zu den inzwischen dunklen Fenstern hinüber sah, als könnte er darin die neuen Formen und Muster gespiegelt sehen, die sich bei der Lektüre für ihn ergaben.
Es dauerte eine halbe Stunde, alles zu lesen, und als er fertig war, legte er die Unterlagen wieder in die Schublade und schob sie leise zu, mit der Hand, nicht mit dem Fuß.
Dann verließ er die Questura und ging in Richtung Rialto und zum Palazzo der Lorenzonis.
Das Dienstmädchen, das ihm öffnete, erklärte sofort, der Conte empfange keine Besucher. Brunetti bat sie, ihn mit seinem Namen anzumelden. Als sie zurückkam, das Gesicht unwillig verkniffen ob dieser Störung der familiären Trauer, sagte sie, der Conte habe nur wiederholt, dass er keine Besucher empfange.
Brunetti bat daraufhin das Mädchen zunächst, dann befahl er ihr, dem Conte auszurichten, er sei jetzt im Besitz wichtiger Informationen, die Robertos Tod beträfen, und wolle den Conte deswegen sprechen, bevor er die Ermittlungen offiziell wiederaufnehme, was er am nächsten Morgen tun werde, wenn der Conte sich weiterhin weigere, ihn zu empfangen.
Wie erwartet forderte sie ihn bei ihrer erneuten Rückkehr auf, ihr zu folgen, und führte ihn, eine Ariadne ohne Faden, über Treppen und Korridore in einen anderen Teil des Palazzos, den Brunetti noch nicht kannte.
Der Conte war allein in einem Raum, vielleicht Maurizios Büro, denn es standen mehrere Computer, ein Fotokopiergerät und vier Telefone herum. Die Plexiglastische, auf denen alle diese Geräte standen, wirkten fehl am Platz zwischen den Samtvorhängen vor den Spitzbogenfenstern mit Blick auf die Dächer der Stadt.
Der Conte saß hinter einem der Schreibtische, auf dem links von ihm ein Computer stand. Als Brunetti herein kam, sah er auf und fragte: »Was gibt's denn?« Es war ihm nicht der Mühe wem aufzustehen oder seinem Besucher einen Stuhl anzubieten.
»Ich bin gekommen, um mit Ihnen über einige neue Informationen zu sprechen«, sagte Brunetti.
Der Conte saß starr da, die Hände vor sich auf dem Tisch. »Es gibt nichts Neues. Mein Sohn ist tot. Mein Neffe hat ihn umgebracht. Und jetzt ist er tot. Danach gibt es nichts mehr. Nichts mehr, was ich noch wissen möchte.«
Brunetti sah ihn lange an. Er versuchte erst gar nicht, seine Skepsis gegenüber dem soeben Gehörten zu verbergen. »Meine Informationen könnten vielleicht Licht auf die Motive für die Tat werfen.«
»Die Motive sind mir egal«, blaffte der Conte. »Für mich und meine Frau genügt es zu wissen, was passiert ist. Ich will nichts mehr damit zu tun haben.«
»Ich fürchte, das geht nun nicht mehr«, entgegnete
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