Brunetti 08 - In Sachen Signora Brunetti
aus dem Fenster, ohne etwas zu sehen, und versuchte hinter den wahren Grund für seine Wut zu kommen. Wenn er die Spuren nicht verwischt hätte, wäre durch ihr Tun seine Stelle, seine Karriere in Gefahr geraten. Ohne Rubertis und Bellinis stillschweigende Komplizenschaft würde die Geschichte bald in allen Zeitungen stehen. Und es gab so manchen Journalisten - Brunetti beschäftigte sich einige Minuten damit, im Geiste eine Liste von ihnen aufzustellen -, dem es ein Fest sein würde, über die kriminelle Ehefrau des Commissario zu berichten. Die Worte standen ihm schon als fette Schlagzeile vor Augen.
Aber jetzt war ihr das Handwerk gelegt, vorerst zumindest. Er erinnerte sich, wie er sie in die Arme genommen und die pure Angst in ihr gespürt hatte. Vielleicht genügte ihr diese Begegnung mit wirklicher Gewalt, auch wenn es nur Gewalt gegen eine Sache war, als Geste gegen das Unrecht. Und vielleicht hatte sie inzwischen Zeit gehabt, zu begreifen, daß ihr Tun Brunettis Karriere in Gefahr gebracht hatte. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, daß er gerade noch Zeit hatte, zum Bahnhof zu kommen und den Zug nach Treviso zu erreichen. Bei der Aussicht, sich wieder mit so etwas Eindeutigem wie einem Banküberfall befassen zu dürfen, überkam ihn eine große Erleichterung.
5
A ls Brunetti am Spätnachmittag von Treviso wieder nach Hause fuhr, hatte er kein besonderes Erfolgsgefühl, obwohl der Zeuge den Mann, von dem die Polizei glaubte, daß es der vom Videoband war, auf einem Foto wiedererkannt hatte und bereit war, gegen ihn auszusagen. Brunetti hatte sich verpflichtet gefühlt, ihm zu sagen, wer der Verdächtige war und daß es gefährlich sein könne, ihn zu identifizieren und vor Gericht zu belasten. Zu seiner Überraschung hatte Signor Iacovantuono, der als Koch in einer Pizzeria arbeitete, sich daran gar nicht gestört, nicht einmal Interesse daran gezeigt. Er hatte ein Verbrechen beobachtet. Er hatte den Täter auf Fotos erkannt. Also war es seine Bürgerpflicht, gegen diesen Verbrecher auszusagen, ungeachtet der Gefahr für ihn und seine Familie. Über Brunettis wiederholte Versicherung, man werde ihnen Polizeischutz geben, hatte er sich allenfalls ein bißchen gewundert.
Noch unheimlicher war, daß Signor Iacovantuono aus Salerno stammte und somit zu diesen kriminell veranlagten Südländern gehörte, deren Anwesenheit hier im Norden angeblich das soziale Gefüge der Nation zerstörte. »Aber Commissario«, hatte er mit seinem starken Akzent betont, »wenn wir gegen diese Leute nichts tun, was werden unsere Kinder dann für ein Leben haben?«
Brunetti bekam diese Worte gar nicht mehr aus den Ohren und fürchtete allmählich, für den Rest seiner Tage vom Gekläff der moralischen Hunde verfolgt zu werden, die durch Paolas Tat von letzter Nacht in seinem Gewissen losgelassen worden waren. Für diesen dunkelhaarigen Pizzabäcker aus Salerno war das alles so einfach gewesen: Ein Unrecht war geschehen, und es war seine Pflicht, dafür zu sorgen, daß es gesühnt wurde. Selbst angesichts der Warnung vor der möglichen Gefahr war er unerschütterlich bei seinem Vorsatz geblieben, zu tun, was er für das richtige hielt.
Während die schlummernden Äcker am Rande Venedigs an den Zugfenstern vorbeiglitten, fragte sich Brunetti, wie es wohl kam, daß dies für Signor Iacovantuono so einfach und für ihn so kompliziert war. Vielleicht wurde es ihm ja dadurch erleichtert, daß Banküberfälle ungesetzlich waren. Darüber war man sich in der Gesellschaft einig. Und kein Gesetz erklärte es für unrecht, Flugtickets nach Thailand oder den Philippinen zu verkaufen; oder eines zu kaufen. Auch kümmerte sich kein Gesetz darum, was einer zu tun beliebte, wenn er erst dort war, kein Gesetz jedenfalls, das in Italien jemals angewandt worden wäre. Solche Gesetze existierten, ähnlich wie die gegen Blasphemie, in einer Art juristischer Rumpelkammer, für deren Vorhandensein noch niemand je einen wirklichen Beweis gesehen hatte.
Seit einigen Monaten, sogar schon länger, erschienen in den Zeitungen und Zeitschriften des Landes immer wieder Artikel, in denen alle möglichen Experten den internationalen Sextourismus statistisch, psychologisch und soziologisch beleuchteten - in der Weise eben, wie die Presse gerne heiße Themen durchkaute. Brunetti erinnerte sich an einige davon, sogar noch an das Foto von vorpubertären Mädchen, die angeblich in einem kambodschanischen Bordell arbeiteten. Ihre knospenden Brüste hatten seine
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