Brunetti 08 - In Sachen Signora Brunetti
Pause sagte Dottoressa Santa Lucia: »Genau«, ohne sich anmerken zu lassen, ob sie sich darüber ärgerte, daß jemand ihr den Clou gestohlen hatte. »Finden Sie das vielleicht merkwürdig?«
»Nicht im mindesten«, antwortete Paola, lächelte noch einmal und wandte sich wieder ihrem Seebarsch zu.
»Ja«, fuhr die Anthropologin fort, »in gewissem Sinne und nach den vorhandenen gesellschaftlichen Normen sind sie entbehrlich, wenn man zum einen bedenkt, daß von ihnen mehr geboren werden, als die meisten Familien ernähren können, und daß zum anderen männlicher Nachwuchs viel wünschenswerter ist.« Sie warf einen Blick in die Runde, um zu sehen, wie das ankam, bevor sie mit deutlich zur Schau gestellter Sorge, sie könne womöglich irgend jemandes starre abendländische Empfindlichkeit verletzt haben, hastig hinzufügte: »Natürlich ganz aus ihrer Vorstellungswelt heraus. Wer anders soll schließlich für die alt gewordenen Eltern sorgen?«
Brunetti nahm die Flasche Chardonnay und beugte sich über den Tisch, um Paolas Glas nachzufüllen, dann goß er sich selbst ein. Ihre Blicke trafen sich; sie lächelte kaum merklich und nickte ihm noch unmerklicher zu.
»Ich halte es für unbedingt notwendig, daß wir diese Frage mit ihren Augen betrachten und versuchen, uns damit so auseinanderzusetzen wie sie, wenigstens soweit unsere eigenen kulturellen Vorurteile es uns gestatten«, verkündete Dottoressa Santa Lucia und erklärte dann in einem mehrminütigen Vortrag, wie wichtig es für uns sei, unsere Sichtweise so zu erweitern, daß wir kulturelle Unterschiede hinnehmen und ihnen den Respekt zollen könnten, den sie schon deshalb verdienten, weil sie sich in Jahrtausenden so entwickelt hätten, daß sie den speziellen Bedürfnissen der jeweiligen Gesellschaft gerecht würden.
Nach einer Weile - Brunetti schätzte, daß es ungefähr so lange dauerte, wie er brauchte, um sein frisch gefülltes Glas Wein auszutrinken und seine Portion Kartoffeln aufzuessen - kam sie zum Schluß und ergriff lächelnd ihr Glas, als wartete sie, daß ihre dankbaren Studenten ans Podium kamen, um ihr zu sagen, wie erhellend ihr Vortrag gewesen sei. Aber das Schweigen dehnte und dehnte sich, bis Paola es endlich brach, indem sie sagte: »Komm, Clara, ich helfe dir, das Geschirr abzuräumen.« Brunetti war nicht der einzige, der erleichtert aufseufzte.
Später auf dem Heimweg fragte Brunetti: »Warum hast du sie so davonkommen lassen?«
Paola zuckte die Achseln.
»Sag's mir doch. Warum?«
»Zu simpel«, meinte Paola wegwerfend. »Es war von Anfang an klar, daß sie mich nur dazu bringen wollte, darüber zu reden, warum ich es getan habe. Wozu hätte sie sonst diesen ganzen Unsinn über entbehrliche Mädchen aufs Tapet gebracht?«
Brunetti ging neben ihr, ihren Ellbogen fest in seiner Armbeuge. Er nickte. »Vielleicht glaubt sie ja daran.« Sie gingen ein paar Schritte weiter und dachten darüber beide nach, bis er sagte: »Ich kann solche Frauen nicht ausstehen.«
»Was für Frauen?«
»Die keine Frauen mögen.« Sie gingen wieder ein paar Schritte weiter. »Kannst du dir vorstellen, wie es in ihren Vorlesungen zugeht?« Bevor Paola darauf antworten konnte, fuhr er fort: »Sie ist von allem, was sie sagt, so überzeugt, so vollkommen sicher, daß sie die einzige Wahrheit gepachtet hat.« Er schwieg kurz. »Und stell dir vor, wie es ist, so jemanden in seinem Prüfungsausschuß zu haben. Du brauchst nur in einem Punkt anderer Meinung zu sein als sie, schon bist du durchgefallen.«
»Wer will sich schon in Kultur-Anthropologie prüfen lassen?« warf Paola ein.
Er lachte laut, ganz ihrer Meinung. Als sie in ihre calle einbogen, verlangsamte er seine Schritte, blieb dann stehen und drehte sie zu sich. »Danke, Paola«, sagte er.
»Wofür?« fragte sie mit Unschuldsmiene.
»Daß du die Schlacht vermieden hast.«
»Die hätte doch nur damit geendet, daß sie mich gefragt hätte, warum ich mich habe festnehmen lassen, und ich glaube nicht, daß sie zu denen gehört, mit denen ich darüber reden möchte.«
»Diese dumme Kuh«, brummelte Brunetti.
»Das war eine sexistische Äußerung«, bemerkte Paola.
»Ja, genau.«
19
N ach diesem Ausflug ins Gesellschaftsleben war beiden der Appetit auf dergleichen vergangen, und sie kehrten zu ihrer Strategie zurück, keinerlei Einladungen anzunehmen. Und wenn auch Paola und er darunter litten, Abend für Abend zu Hause bleiben zu müssen, und Raffi ihr ständiges Daheimsein schon mit
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