Brunetti 09 - Feine Freunde
Eingangshalle, aber blind für ihre Schönheit. Mit einer bewußten Willensanstrengung hielt er sich davon ab, die vielen Geschichten von der legendären Inkompetenz dieses Krankenhauses, die er schon vernommen hatte, herunterzubeten wie einen Rosenkranz. Rossi war also in die Orthopädie gebracht worden und dort gestorben. Das war alles, woran er im Moment zu denken hatte.
Er wußte, daß es in London und New York Musicals gab, die Jahre und Jahre liefen. Die Besetzungen änderten sich, neue Schauspieler übernahmen die Rollen derer, die ausstiegen oder anderswo engagiert wurden, aber die Stücke und die Kostüme blieben dieselben, Jahr für Jahr. Brunetti schien es, daß hier etwas Ähnliches geschah: Die Patienten wechselten, nicht aber ihre Kostüme und die allgemeine Atmosphäre des Elends, die sie umgab. Männer und Frauen schlurften in ihren Morgenmänteln und Pyjamas durch die Bogengänge oder standen am Kiosk, gestützt auf Gipsverbände und Krücken, während unaufhörlich dieselben Geschichten gespielt wurden. Manche Spieler wechselten die Rolle; andere - wie Rossi - traten von der Bühne ab.
Vor der Orthopädie angekommen, sah Brunetti neben der Tür am Ende der Treppe eine Schwester stehen und eine Zigarette rauchen. Als er näher kam, drückte sie die Zigarette in einem Pappbecher aus, den sie in der anderen Hand hielt, öffnete die Tür und wollte auf die Station zurück.
»Entschuldigung«, sagte Brunetti, indem er ihr schnell durch die Tür folgte.
Sie warf den Pappbecher in einen metallenen Abfallbehälter und drehte sich zu ihm um. »Ja?« fragte sie, ohne ihn richtig anzusehen.
»Ich komme wegen Franco Rossi«, sagte er. »Der Pförtner hat mir gesagt, daß er hier ist.«
Sie sah ihn nun etwas genauer an, und ihre professionelle Undurchdringlichkeit löste sich ein wenig auf, als wäre er durch die Nähe zum Tod einer besseren Behandlung würdig geworden. »Sind Sie ein Angehöriger?« erkundigte sie sich.
»Nein, ein Freund.«
»Mein Beileid«, sagte sie, und es klang nicht nach beruflicher Routine, sondern nach aufrichtiger Anteilnahme an menschlichem Kummer.
Brunetti dankte ihr, dann fragte er: »Was ist denn passiert?«
Sie setzte sich langsam in Bewegung, und Brunetti ging neben ihr her, weil er glaubte, sie werde ihn zu Franco Rossi führen, seinem Freund Franco Rossi. »Er wurde am Samstag nachmittag eingeliefert«, erklärte sie. »Unten haben sie bei der Untersuchung gesehen, daß seine beiden Arme gebrochen waren, da haben sie ihn zu uns heraufgeschickt.«
»In der Zeitung stand aber, er hätte im Koma gelegen.«
Sie zögerte, dann begann sie plötzlich, schneller zu gehen. Sie näherten sich einer Doppelschwingtür am Ende des Korridors. »Dazu kann ich nichts sagen. Aber er war bewußtlos, als er hier oben ankam.«
»Bewußtlos wovon?«
Sie zögerte wieder, als müßte sie überlegen, wieviel sie ihm sagen durfte. »Er muß sich bei seinem Sturz am Kopf verletzt haben.«
»Wie tief ist er denn gestürzt? Wissen Sie das?«
Sie schüttelte den Kopf, drückte mit der Hand die Tür auf, hielt sie fest und ließ Brunetti den Vortritt. Sie kamen in einen großen Vorraum, auf dessen einer Seite ein Schreibtisch stand, der momentan nicht besetzt war.
Als er begriff, daß sie seine Frage nicht beantworten wollte oder konnte, fragte er statt dessen: »War seine Kopfverletzung schwer?«
Sie wollte antworten, stockte und sagte: »Das müssen Sie einen der Ärzte fragen.«
»War die Kopfverletzung denn die Todesursache?«
Er wußte nicht, ob er es sich nur einbildete, aber er hatte den Eindruck, daß sie sich bei jeder seiner Fragen ein Stückchen höher aufrichtete, während ihre Stimme immer professioneller wurde und an Menschlichkeit verlor. »Auch das müßten Sie die Ärzte fragen.«
»Aber ich verstehe noch immer nicht, warum man ihn hier auf diese Station gebracht hat«, sagte Brunetti.
»Wegen seiner Arme«, antwortete sie.
»Aber wenn sein Kopf...«, begann Brunetti, doch die Schwester wandte sich von ihm ab und ging auf eine weitere Schwingtür links vom Empfangstisch zu.
Sowie sie diese erreicht hatte, drehte sie sich um und rief über die Schulter zurück: »Vielleicht kann man es Ihnen unten erklären. In der Notaufnahme. Fragen Sie nach Doktor Carraro.« Dann war sie fort.
Brunetti folgte ihrem Rat und ging rasch nach unten. In der Notaufnahme erklärte er der Schwester, er sei ein Freund eines gewissen Franco Rossi, der nach seiner Verlegung auf die Station
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