Brunetti 09 - Feine Freunde
gestorben sei, und er wolle bitte mit Doktor Carraro sprechen. Sie ließ sich seinen Namen nennen und bat ihn, zu warten, bis sie mit dem Doktor gesprochen habe. Brunetti ging zu einem der Plastikstühle an der Wand und setzte sich. Er fühlte sich plötzlich sehr müde.
Nach etwa zehn Minuten stieß ein Mann im weißen Kittel die Schwingtüren auf, die zum Behandlungszimmer führten, und kam ein paar Schritte auf Brunetti zu, bevor er stehenblieb. Die Hände tief in den Taschen seines Kittels, machte er deutlich, daß er von Brunetti erwartete, aufzustehen und zu ihm zu kommen. Er war klein und hatte diesen wiegenden, aggressiven Gang, den viele Männer seiner Statur sich angewöhnen. Sein grobes weißes Haar war mit einer öligen Pomade fest an den Kopf geklebt, und die roten Wangen sprachen eher von Alkohol als von Gesundheit. Brunetti erhob sich höflich und ging ihm entgegen. Er überragte den Arzt um mindestens einen Kopf.
»Wer sind Sie?« fragte Carraro, wobei er zu seinem Gegenüber aufblicken mußte, was ihm sichtlich schon sein Leben lang Verdruß bereitete.
»Wie Ihnen die Schwester vielleicht schon gesagt hat, Dottore, bin ich ein Freund von Signor Rossi«, begann Brunetti.
»Wo sind seine Angehörigen?« erkundigte sich der Arzt.
»Das weiß ich nicht. Wurden sie denn verständigt?«
Carraros Verdruß verwandelte sich in Zorn, zweifellos ausgelöst durch den Gedanken, jemand könne so ignorant sein und annehmen, daß er, der Dottore, nichts Besseres zu tun habe, als herumzusitzen und mit den Angehörigen von Verstorbenen zu telefonieren. Statt zu antworten, fragte er: »Was wollen Sie eigentlich?«
»Ich wüßte gern, woran Signor Rossi gestorben ist«, antwortete Brunetti ruhig.
»Und was geht Sie das an?« fuhr der Dottore auf.
Im Ospedale Civile herrschte, wie Il Gazzettino seinen Lesern oft ins Gedächtnis rief, Personalmangel. Es war ständig überbelegt, und deshalb mußten viele Ärzte Überstunden machen.
»Hatten Sie Dienst, als er eingeliefert wurde, Dottore?« fragte Brunetti, statt auf die Frage zu antworten.
»Ich habe Sie gefragt, wer Sie sind«, sagte Carraro in schärferem Ton.
»Guido Brunetti«, antwortete er gelassen. »Ich habe in der Zeitung gelesen, daß Signor Rossi im Krankenhaus liegt, und bin gekommen, um zu sehen, wie es ihm geht. Der Pförtner hat mir gesagt, daß er gestorben ist, und deswegen bin ich hier.«
»Warum?«
»Um die Todesursache zu erfahren«, sagte Brunetti. »Und noch anderes.«
»Was noch für anderes?« Das Gesicht des Arztes nahm eine Farbe an, die als gefährlich zu erkennen man kein Mediziner sein mußte.
»Um mich zu wiederholen, Dottore«, sagte Brunetti mit übertrieben höflichem Lächeln, »ich möchte wissen, woran er gestorben ist.«
»Sie sagen, Sie sind ein Freund, ja?«
Brunetti nickte.
»Dann haben Sie keinen Anspruch darauf, das zu erfahren. Wir dürfen so etwas nur seinen nächsten Angehörigen mitteilen.«
Als hätte der Arzt gar nicht gesprochen, fragte Brunetti: »Wann wird die Autopsie gemacht, Dottore?«
»Die was?« fragte Carraro in einem Ton, der zeigen sollte, wie absurd Brunettis Frage war. Als Brunetti nicht darauf einging, machte Carraro auf dem Absatz kehrt und entfernte sich, wobei seine Haltung deutlich die Verachtung des Kundigen für die Dummheit des Laien zum Ausdruck brachte.
»Wann wird die Autopsie gemacht?« wiederholte Brunetti, diesmal unter Weglassung des Titels.
Der Arzt fuhr herum, nicht ohne ein gewisses Pathos, und kam mit raschen Schritten zu Brunetti zurück. »Gemacht wird, was die medizinische Leitung dieses Krankenhauses entscheidet, Signore. Und ich glaube kaum, daß man Sie bitten wird, an einer solchen Entscheidung mitzuwirken.« Brunetti interessierte sich weniger dafür, wie heiß Carraros Zorn war, als dafür, was ihn ausgelöst haben mochte.
Er zückte seine Brieftasche und entnahm ihr seinen Dienstausweis, faßte ihn an einer Ecke und hielt ihn Carraro mit Bedacht so hin, daß dieser gezwungen war, den Kopf weit zurückzulegen, um ihn lesen zu können. Der Arzt riß ihm den Ausweis aus der Hand, hielt ihn tiefer und studierte ihn aufmerksam.
»Wann wird die Autopsie gemacht, Dottore?«
Carraro hielt den Kopf über Brunettis Dienstausweis gesenkt, als könnte er durch Lesen die Worte verändern oder ihnen eine neue Bedeutung geben. Dann drehte er ihn um und betrachtete die Rückseite, aber nützliche Informationen suchte er darauf so vergebens wie eine gebührende Antwort in
Weitere Kostenlose Bücher